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Resi
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Beitragvon Resi » So 31. Jul 2011, 14:37

Rache

Ich greife ein paar Male vergebens zum schwarzen Kamm im Badezimmer und sobald er endlich in meiner Hand liegt, blicke ich ihn angeekelt an. "Wozu soll ich mich frisieren, wenn es nichts zu kämmen gibt?", murmle ich und lasse dennoch die Zinnen des Kamms krampfhaft und vorsichtig über die spärlich vorhandenen Haarbüscheln gleiten. Ich erspare mir den Blick in den Spiegel. Stattdessen hänge ich einem Traum nach und sage laut lachend: "Ich bin ein Womanizer! Mir kann keine widerstehen und du auch nicht..." Ich bewege meine Hüfte in eindeutiger Geste. Der Kamm dient mir jetzt als verlängerter Zeigefinger und ich zeige auf eine eingebildete Person. Ich sehe ein spanisches Rasseweib vor mir. Sie hat langes, dunkelbraunes Haar und es ist zu einem dicken Zopf gebunden. Ihre Figur ist an den richtigen Stellen üppig, dort wo ich es mag. Dann ist der schöne Traum vorbei. Meine Traumfrau verblasst, verflüchtigt sich ins Nichts. "Verdammt! Was ist nur aus mir geworden?" Ich stelle mich der Realität und sehe in den Spiegel. Ich kann mein Abbild aber nicht lange ertragen. Ich sehe weg, indem ich die Augen schließe und presse meine Lider fest zusammen. Es schmerzt und der Schmerz ist ein guter Schmerz. Trotzdem nicht gut genug. Ich versuche vor mir davonzulaufen, versuche es wieder und wieder. Aber die Wirklichkeit holt mich ein. Immer, ausnahmslos. "Scheiße!" Ich bekomme einen Backflash. Das ist mir nicht fremd, sondern unbarmherzig vertraut. Ich spüre wieder die Hitze, schmecke den Rauch auf meiner pappigen, klebrigen Zunge und rieche das verbrannte Plastik. Der Qualm reizt meine Lunge. Ich beginne zu husten. Genau wie vor fünf Jahren. Ich reiße meine Augen auf, klammere mich an das Spülbecken im Badezimmer. Mein Kamm fällt zu Boden. "Atme! Du musst ruhig atmen, Junge...", befehle ich meinen Körper und lege eine Hand auf die stoßweise flatternde Brust. "Ich habe überlebt...", und das ist alles was zählt? Meine malträtierte Haut glänzt im Angesicht meines Schweißes. "Ich habe überlebt!" Dann beginne ich zu weinen. Ich beuge mich über das Spülbecken und meine Tränen tropfen in den dunklen Abfluss. Ich beginne mich zu beruhigen. Der schwarze Ausguss, dieses stinkende, kleine Loch hat einen beruhigenden Einfluss auf mich. Mein Atem wird gleichmäßiger und mein Weinen geht ins Schniefen über. Ich nehme ein Handtuch. Es ist schmutzig und sollte gewaschen werden. Ich klemme es irgendwie über den Spiegel, verwehre mich aufs Neue meiner Realität, will verdrängen. Ich blicke auf meine Zahnbürste. Die Borsten sind in verschiedene Richtungen gestellt. Sie sollte ausgetauscht werden. Doch ich verzichte sowieso auf das Zähneputzen. Mein Gebiss ist nicht mehr tadellos und deswegen erspare ich mir diese Mühe. Selbst meine Kleidung ist nicht schön und modisch. Ich suche sie nach dem Scheuerungsgrad aus. Sie soll meine dünne Haut so wenig wie möglich reizen.

Der Kamm liegt in einer Ecke am Boden. Ich hebe ihn nicht auf. "Warum habe ich mich gekämmt?", frage ich mich und finde doch keine wahrheitsgetreue Antwort. Vielleicht will ich einfach nicht von der Vergangenheit lassen, trauere meinem alten Leben nach, als es mir noch soviel zu bieten hatte und ich nur zugreifen musste. Vielleicht. Ich blicke auf meine Hand. Sie war einmal gepflegt und maskulin. Frauen haben sich dank ihr gewunden, haben gestöhnt und mich lustvoll angefleht. Jetzt kann ich sie kaum mehr bewegen. Trotzdem will ich sie zu einer Faust ballen. Meine verwachsene Haut weigert sich und protestiert. Ich schreie vor Schmerzen, ehe ich die Finger wieder entspanne. Ich habe den zweiten OP-Termin verpasst. Sie wollten mich wieder unters Messer legen. Man hätte mir stückweise neue, gesunde Haut transplantiert. Doch ich will nicht. Sie können mir mein altes Leben nicht mehr zurückgeben. Niemals. Es liegt hinter mir. Jetzt verlasse ich das Badezimmer und öffne den Kleiderschrank in meinem Schlafzimmer. Dort steht ein medizinisch ausgerüstetes Bett. Ein Bett für Brandopfer. Ich will es nicht mehr sehen müssen, nie wieder. Ich streife ein T-Shirt über und verziehe gepeinigt das Gesicht, ehe sich das Gleiche bei der restlichen Kleidung wiederholt. Dann stehe ich in meiner Küche. Diesmal kann ich nicht ignorieren, nehme den Esstisch wahr. Die gleiche Hand von vorhin gleitet über das teure und seltene Tropenholz. Es ist Schmugglerware und ich war einmal sehr stolz darauf. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor. "Dort hat sich schon lange keine Frau mehr gerekelt und sich unter deinen Stößen den Rücken platt gedrückt. Hahahaaaaa!" Die Stimme in meinem Kopf klingt wie meine und trotzdem gehört sie nicht zu mir, nicht mehr. "Wer zuletzt lacht, lacht am besten!" Ich lache nicht. Ich zwinge meinen Blick weg, sehe auf eine leere Stelle. Dort stand einmal mein Designerherd, ein Gasherd. Ich habe ihn ausbauen lassen, denn er hat mir Angst gemacht. Das offene Feuer habe ich nicht mehr ertragen können. Ich humple auf eine Schublade zu. Ich ziehe die Lade auf. Ganz hinten liegt ein goldenes Zippo. Das Feuerzeug habe ich von einer der Frauen geschenkt bekommen. Sie hat mich ständig mit Geschenken überhäuft, wollte mich an sich binden, hat geklammert. Ich habe die meisten ihrer Geschenke angenommen und sie dafür gehasst. Ich war ein arrogantes Arschloch, habe sie ausgenutzt und sie hat noch mehr geklammert. Sie hat an eine gemeinsame Zukunft geglaubt. Ich nicht. Jetzt habe ich meinen Willen. Ich bin ganz alleine. Ich nehme das Feuerzeug an mich, spüre das Gewicht in meinen beiden Händen und öffne umständlich die Klappe. Das Klicken jagt mir einen perversen Schauer über den Rücken. Ich versuche mit meinem Daumen das Rad zu bewegen. Es klappt erst beim vierten Versuch. Dann ist das Feuer zu sehen. Ich zucke zurück, hätte fast das Feuerzeug fallen gelassen. Doch ich halte es noch immer in meinen Händen, starre in die Flamme. Sie hypnotisiert mich. Mein Gaumen hat sich in Schmirgelpapier verwandelt. Ich registriere es nicht. Für einen langen Moment gibt es nur mich und diese Flamme. Bis ich die Klappe wieder schließe und erleichtert ausatme. Dann lächle ich gehässig. Ich werde meine Angst überwinden müssen, werde daran arbeiten. "Brennen, ihr werdet alle brennen!" Denn manche Dinge müssen einfach getan werden.
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Beitragvon Resi » So 31. Jul 2011, 22:07

Die Tür

"Ticktack!" Er sah auf die Uhr und wünschte sich, die Zeit würde schneller vergehen. "Tick... ich lasse mir Zeit. Tack... erst eine Sekunde vorbei!" Der untersetzte Mann erhob sich aus einem bequemen Ledersessel. Er konnte nicht mehr still sitzen, begann nervös hin- und herzugehen. Dabei fiel sein ungeduldiger Blick auf eine feingeschliffene Karaffe. Das bernsteinfarbene Getränk lockte ihn, führte ihn in Versuchung. Er leckte sich verlangend über die Lippen. Doch er konnte widerstehen, schüttelte den Kopf. "Ich muss bei klarem Verstand bleiben! Ich habe nur diese eine Chance...", vertat er sie, war alles vorbei. Er blieb vor der einzigen Tür in diesem Raum stehen. Es war eine Holztür. Sie schien sehr alt zu sein, gemacht für die Ewigkeit. Seine dicklichen Finger berührten geschnitzte, verzerrte Gesichter. Er folgte den blasphemischen Zügen, fuhr die feinen und manchmal weniger feinen Linien nach. Der Mann nahm eine negative Energie wahr, nahm sie in sich auf und wurde ein Teil davon. Angst und Respekt bemächtigten ihn, schienen vollkommen natürlich zu sein. Auch diese Fratzen waren davon durchdrungen und mit dieser Energie verwoben. Plötzlich zuckte er zurück, als hätte ihn eine gebissen. Jetzt graute es ihn davor und zeitgleich war er auch fasziniert, wurde mit Leib und Seele davon angezogen. Er wollte bleiben, wollte gehen. Doch er durfte beides nicht. Widerstrebend wandte er sich ab, blickte wieder auf die Uhr. "Wann?" Wie lange musste er noch ausharren? Ratlos strich er sich über das schüttere Haar und war sich dessen einen Moment voll bewusst. Der Mann trug schon sehr lange eine Glatze und doch wusste er auf den Tag genau, wann sein Haarausfall begonnen hatte. Es war ein lauer Spätsommerabend gewesen. Er war noch so jung und wollte mit den anderen Theologiestudenten ausgehen, eine Party besuchen. Deswegen stylte er sich, griff zur Bürste und strich sich durch sein aschblondes Haar. Zum Abschluss blickte er auf die Bürste und sah die darin verfangenen Haare. Es waren einfach zu viele, weit über das normale Maß hinaus. Er lächelte ein wenig wehmütig und rügte sich wegen seiner Albernheit. Denn er hatte jetzt wirklich andere Sorgen. "Verdammt!", wie konnte ihm das passieren? Wie konnte jemand davon erfahren? Das war sein kleines, schmutziges Geheimnis und niemand hatte das Recht ihn zu verurteilen und zu erpressen! Er ballte eine Hand zur Faust und schlug sich zornig in seine andere, offene Handfläche. Dieser Zorn schnürte ihm die Luft ab und der Mann zerrte grob an seinem Kragen, der aufgrund seiner weißer Farbe im starken Kontrast zu seiner restlichen, schwarzen Kleidung stand. Plötzlich öffnete sich diese geheimnisvolle, beängstigende Tür und ein junger Mann, der ungefähr dreißig Jahre alt war, betrat in dunkelroter Robe den Raum. Er sah fast unverschämt gut aus und stand kurz darauf dem Mann mit Anfang Sechzig gegenüber. "Ich komme zu spät...", entschuldigte sich der jünger der beiden Männer. Beide gehörten der katholischen Kirche an und trotz des erheblichen Altersunterschied, war der Jüngere von höherem Rang. "Ich hoffe, sie haben sich die Wartezeit mit einem Schluck Whiskey versüßt?", er zeigte auf die Karaffe, die der Andere vorhin so verlockend fand. Der glatzköpfige Priester schüttelte den Kopf und trat näher an seinen Vorgesetzten. Er küsste demütig einen protzigen Ring und begann zu sprechen:

"Eurer Hochwürden... ich", er schluckte trocken. Jetzt wünschte er sich doch einen Drink. Er brauchte einen Schluck und dennoch bat er nicht darum. "Ihr... ihr habt mich in dieser speziellen Angelegenheit um eine Unterredung gebeten..." Er kam am besten gleich zur Sache. Schließlich stand seine Zukunft als Priester auf dem Spiel. Außerdem musste er auch mit einer Gefängnisstrafe rechnen, sofern sich die Kirche dazu entschloss, diesmal nichts zu vertuschen und an ihm ein Exempel zu statuieren. Plötzlich und für den alten Prieser ohne ersichtlichen Grund, begann der junge Würdenträger zu lachen. Dann schloss er langsam und sorgfältig die noch immer geöffnete Tür. "Haben sie es gespürt?", wollte er von ihm wissen und starrte eine zermürbend lange Zeit auf die Fratzen. "Euer Hochwürden, wir sollten wirklich...", gab der Gefragte keine Antwort und erschrak heftig, als er an den Schultern gepackt und geschüttelt wurde. "HABEN SIE ES GESPÜRT?", schrie der Jüngere und spuckte einen Schwall seines Speichels in das runde, bleiche Gesicht. Dann ließ er von ihm ab, strich dem untersetzten Mann fast liebevoll die Kleidung glatt und sagte mit beruhigter Stimme: "Sie sind nicht in der Position irgendetwas zu wollen. Antworten sie mir!", forderte er lächelnd. "Ja, ich habe diese verfluchten Fratzen gesehen. Widerlich, einfach nur widerlich!", und er wagte es nicht, den Speichel wegzuwischen. "Widerlich?", das Lächeln von eben war einem breiten, süffisantem Grinsen gewichen. "Was würde denn die Öffentlichkeit zu ihren...", er hüstelte affektiert in seine Faust: "...Vorlieben sagen?" Der Jüngere musterte seinen Gesprächspartner aus blassblauen, spöttischen Augen interessiert und traf auf einen braunen, verängstigten Blick. "Sie brauchen keine Angst zu haben, denn ich verurteile sie nicht...", er lachte noch einmal laut auf. "Nein! Ich billige ihre Perversion nicht nur, ich freue mich darüber!" Er ging auf die Karaffe zu, schenkte sich in ein teurer aussehendes, schweres Kristallglas ein und nahm einen kräftigen Schluck. Für den älteren Mann glich das einer Absolution. Endlich traf er auf Verständnis, endlich! "Ihr... ihr habt... ihr findet nichts Verwerfliches daran?", stammelte er dennoch skeptisch. "Ich teile ihre Neigung nicht, aber...", der junge Mann schwieg einen Augenblick. "Haben sie sich noch nie die Frage gestellt, warum ausgerechnet ich in dieses hohe Amt berufen wurde? Ich bin einfach zu jung für diese Position. Wir wissen beide um die Kirchenpolitik Bescheid. Also, haben sie sich diese Frage schon einmal gestellt oder nicht?" Der Befragte nickte stumm. Natürlich hatte er das schon und es gab hitzige Diskussionen deswegen. Sie fühlten sich übergangen und betrogen. Der junge Würdenträger stellte das Glas zurück auf den kleinen Beistelltisch und fragte mit gespielt bedauernder Stimme: "Wollen sie wirklich nichts trinken? Der Whiskey ist über hundert Jahre alt..." In Wirklichkeit war es ihm egal, ob der Andere trank oder nicht. "Wir beobachten unsere Schäfchen genau!", sprach er in kirchentypischer Phrase einfach weiter. "Und sie beobachten wir schon seit...", er musste überlegen und setzte sich dabei in den bequemen Ledersessel: "...ungefähr vier Jahrzehnten. Wir waren schon immer da, haben beobachtet und auch eingegriffen. Wir haben Macht, wir sind die Macht...", er verzog das Gesicht in einer selbstgefälligen Weise. "Die katholischen Kirche verdankt uns ihren Ruhm und Wohlstand. Wir stecken hinter den Kreuzzügen und hinter der Inquisition. All das waren wir und noch vieles mehr..." Der Glatzköpfige horchte sprachlos zu. Er war sich ziemlich sicher, dass ein völlig Verrückter vor ihm saß. Leider hatte dieser Verrückte ihn in der Hand, wusste um sein Geheimnis. "Vielleicht... vielleicht sollten wir unsere Unterredung verschieben?", schlug er vorsichtig vor. "Sie zweifeln an meinen Worten?", man konnte die Belustigung und Verärgerung gut aus Hochwürdens Stimme heraushören. "Dann überzeugen sie sich selbst! Gehen sie durch die Tür...", flüsterte er, bevor er wieder zu schreien anfing: "GEHEN SIE DURCH DIESE TÜR!" Der ältere Priester kam dieser Aufforderung nur zögerlich nach. Aber ohne eine Wahlfreiheit zu haben, musste er sie öffnen und dahinter verschwinden. Kurze Zeit später hörte man ihn schreien und der Mann auf dem bequemen Ledersessel begann zu kichern. "Jetzt zweifelt er nicht mehr!"
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Beitragvon Resi » Mo 1. Aug 2011, 14:48

Das Loch

Meine schmutzigen Nägel krallen sich krampfhaft in das alte, poröse Gestein und meine Füße suchen verzweifelt nach Halt. Ich möchte nach oben. Nichts weiter, nur nach oben. "Warum? Warum...", frage ich mich und gebe mir keine Antwort darauf. Ich bin am Ende meiner Kräfte angelangt und rutsche resigniert ab. Fingernägel brechen und Fingerspitzen legen eine blutige Spur. Ich kann nichts davon verhindern, denn ich lande wieder am Boden. Ich wühle mit meinem Gewicht das braune, knöcheltiefe Wasser auf, schlage Wellen. Es spritzt als kleine Fontaine hinauf und prasselt als kurzer Regenguss auf mich herab. Ich schaue sehnsüchtig nach oben, blinzle mit meinen verklebten Augen in das weit entfernte Licht. "Ich will hier raus!", schreie ich so laut ich kann und lausche danach dem Hall, der mich zu verspotten scheint: "Raus... raus... aus…" Ich blicke auf meine Finger. Die Haut steht in Fetzen ab. Deswegen kann ich das nackte Fleisch darunter sehen. Dann vergrabe ich mein eingefallenes Gesicht in diese malträtierten Hände und schluchze tränenlos. Ich kann nicht mehr richtig weinen. "Wie lange bin ich schon hier?", mir fehlt das Zeitgefühl. Es hat sich irgendwann von mir verabschiedet. Trotzdem bin ich nicht ehrlich zu mir. Denn ich hoffe noch immer auf Hilfe, hoffe auf Rettung, die es nicht geben wird. Nicht für mich. "Wie konnte das passieren?" Ich will mich weigern, will nicht akzeptieren, dass ich selbst schuld bin. Dennoch weiß ich es besser, kann nicht leugnen. "Ich habe nicht nachgedacht!" Ich hätte es aber wissen müssen, hätte nicht so dumm sein sollen. Das Holz hat instabil ausgesehen. Es konnte mein Gewicht einfach nicht tragen. "Ich habe es gewusst!", doch ich wollte den Nervenkitzel. Ich brauchte den Nervenkitzel. Jetzt habe ich ihn und jetzt will ich ihn nicht mehr. Ich will wieder in mein langweiliges Leben zurück. Ich bin erst einundzwanzig Jahre alt und Buchhalter. Ich bin ein Mann, der immer korrekt gekleidet ist. Mir ist die gängige Mode egal. Nur schmuddelig will ich nicht sein. Ich verabscheue Schmutz. Aber ich bin gerade schmutzig. Ich ekle mich vor mir und dem Dreck. Doch der Ekel ist zu meinem engsten Verbündeten geworden. Er hilft mir, hilft mir zu ertragen und weiter zu hoffen. In meiner Firma nennen sie mich heimlich Bohnenstange. Ich empfinde mich aber nicht als zu groß und zu dürr. Ich bin drahtig, habe eine athletische Figur. Trotzdem riskieren die Frauen keinen zweiten Blick auf mich. Ich weiß nicht warum das so ist. Ich habe noch nie mit einer Frau geschlafen. Ich bin noch Jungfrau. Aber das macht nichts, denn meine Liebe gilt sowieso nur meiner Mutter. Sie ist sehr krank und ich kümmere mich aufopfernd um sie. Sie hat nur mich und ich habe nur sie. "Ich werde sterben!" Ich will aber nicht sterben. Ich will leben. Wer soll sich sonst um Mutter kümmern? Ich senke meine wunden Hände und starre auf die braune Plörre am Boden. Ich beginne laut und hysterisch zu lachen. Ganz ohne einen Grund, einfach so. Dann wandert mein Blick weiter, wieder auf das alte, bröselige Gestein, das an einigen Stellen mit Moos überwuchert ist. Ich habe daran gelutscht, habe von dem bitteren Saft gekostet. Es hat grauenvoll geschmeckt. Aber ich werde hier unten ganz sicher nicht verdursten.

"Ich sitze in der Falle!", kreische ich und der Hall wirft meine Worte wieder unerbittlich zurück: "Falle... Falle... alle!" Ich sinke erschöpft zu Boden. Das kalte, schlammige Wasser empfängt meine knochigen Knie schmatzend und ich halte mir gehetzt die Ohren zu. Ich will nicht hören und dennoch muss ich. Dann erhebe ich mich wieder schwankend. Ich rapple mich hoch, taumle erschöpft. "Einmal noch! Nur noch einmal...", flüstere ich und trickse damit den Hall meiner eigenen Stimme aus. Ich grinse triumphierend und doch ist es ein schäbiger Triumph. Ich presse meinen Körper auf das Gestein. Meine blutigen Fingerkuppen gleiten darüber, suchen nach Ritzen und Spalten. Ich beginne mich wieder hochzuziehen. Meine Muskeln erzittern vor Überanstrengung und ich hechle wie ein Hund. Einen langen Moment verharre ich still, kann mein Keuchen hören und das Tropfen von Kondenswasser nah an meinem Ohr. Dann ziehe ich mich weiter hoch. Immer weiter. Ich strample mit meinen Füßen. Doch meine Schuhe sind nur klobige Statisten. Aber ich falle nicht, diesmal nicht. "Ich kann es schaffen!" Ich fühle, wie sich die Hoffnung in mir ausbreitet. Sie verdrängt meine Verzweiflung und schenkt mir neuen Mut. Doch die Wand ist einfach zu steil. Ich kann nicht mehr. Ich stürze ab. Ich bin dem Licht nahe gekommen. So nah wie noch nie. Deswegen falle ich auch tief. Meine Schuhe berühren wieder den Boden. Aber diesmal ist es anders. Ich registriere ein lautes Ploppen oder einen Knall. Ich kann das Geräusch nicht richtig einordnen. Dann ist es einen Moment totenstill. Ich blende alles aus, versuche zu begreifen. Langsam nehme ich wieder wahr. Das allgegenwärtige Tropfen des Kondenswassers holt mich aus meiner Konzentration zurück. "Platsch... platsch... platsch!" Es macht mich wahnsinnig. Fast so wahnsinnig wie der Schmerz in meinem rechten Bein, der sich erst jetzt meiner bemächtigen kann. Er wiegt mich grob in seinen sadistischen Armen, schaukelt mich in die Hölle. "Mein Bein ist gebrochen!" Ein Oberschenkelknochen ragt aus meinem Körperinneren hervor und winkt mir stumm und trotzdem aussagekräftig zu: "Hallo! Ich glaube, wir haben uns noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen und trotzdem kennen wir uns in- und auswendig. Ich bin du und du bist ich!" Ich weiß nicht, ob ich geschrieen habe. Aber das ist auch nicht wichtig. Ich krümme mich, suhle mich wie ein Schwein im Schlamm. Ich versuche meine Gürtelschnalle zu öffnen. Es gelingt mir nicht. Ich kann mich nicht rühren. "Hilfe!", rufe ich kläglich und mein Körper befindet sich nach den ersten, harmloseren Anzeichen, in einem lebensbedrohenden Schockzustand. Meine Pupillen sind geweitet. Doch ich sehe nicht. Auch meine Blutgefäße haben sich weit gestellt, wollen die wichtigsten Organe mit Sauerstoff versorgen können. Mein Blutdruck sinkt rapide ab und die Herzfrequenz verringert sich. Mein Herz pumpt immer langsamer. Immer langsamer. Meine Haut ist blass und ich zittere am ganzen Körper. Ich habe Angst und bin unruhig. Meine Poren spucken kalten Schweiß aus. Aber ich fühle keinen Schmerz mehr. Dafür sorgt das Adrenalin. Das macht mich demütig und auch dankbar. Ich atme nur noch flach. Meine Organe beginnen zu versagen. "Mutter!" Ich denke an sie. Mutter liegt in ihrem Krankenbett und ruft nach mir. Ich kann ihr nicht antworten und auch nicht mehr helfen. Ich brauche selbst Hilfe. Niemand kümmert sich um mich, obwohl ich im Sterben liege. Es ist ein Zwischenzustand, ein langsamer Prozess. Trotzdem läuft mir die Zeit davon, ich habe keine Lebenszeit mehr übrig. Denn jetzt sterbe nicht mehr. Jetzt bin ich tot.
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Beitragvon Resi » Di 2. Aug 2011, 19:55

Wünsche

Ich bin auf dem Weg zur Arbeit, zwänge mich wie jeden Morgen in die überfüllte U-Bahn. Ich muss wie immer stehen bleiben. Für mich ist nie ein Sitzplatz frei. Nicht einmal heute, obwohl ich heute Geburtstag habe. Ich bin um Punkt sieben Uhr morgens vierzig Jahre alt geworden. Ich bin darüber nicht glücklich. Ich will nicht alt sein, will nicht zum alten Eisen gehören. Es gibt sogar einen Namen dafür: Midlife Crisis. Ich weiß nicht, ob ich wirklich in einer Mittlebenskrise stecke. "Was wünsche ich mir?" Ich wünsche mir, wieder jung zu sein. Ich will nicht vierzig Jahre alt sein. Ich betrachte flüchtig meine Mitfahrenden, nehme wahr ohne wahrzunehmen. Plötzlich bleibt mein Blick hängen. Ich mustere verstohlen das Gesicht einer Frau, deren Alter ich nicht einschätzen kann. Sie sieht an mir vorbei, obwohl ich ihr gegenüber stehe. Ihre Kleidung soll dezente Geschäftsmäßigkeit suggerieren. Aber ich lasse mich nicht täuschen. Ihr Haar ist Haselnussbraun und sie hat grüne Augen. Sie gefällt mir. "Schenke mir einen Wunsch!", sage ich still und hoffe auf eine Antwort, die nicht kommen wird. Jetzt starre ich sie unverhohlen an, taxiere den Körper meines Gegenübers. Sie dreht den Kopf weg, demonstriert mir ihre Abweisung. Ich lasse nicht locker. Ich ziehe sie mit meinen Blicken aus. Dann beuge ich mich nach vorne, flüstere ihr zu: "Was wünscht du dir?" Ihr Körper versteift sich und zum ersten Mal kreuzen sich unsere Blicke. Ich genieße diesen Augenblick, lächle versonnen. Sie antwortet, indem sie mir den Vogel zeigt und den Stehplatz wechselt. "Was wünsche ich mir?" Ich wünsche mir, diese Frau näher kennenzulernen, sie in meinen Armen zu halten. Ich schaue ihr einen Moment sehnsüchtig nach. Dann verliert sich mein Blick und ich fokussiere einen Mann mit schlohweißem Haar, der einen schäbigen Anzug trägt. Er hat einen Sitzplatz gefunden. "Was wünscht du dir für ihn?", frage ich in Gedanken und habe eine klare Vorstellung. "Den Tod!" Ich schüttle den Kopf über mich. Ich will den Wert eines Lebens nicht bestimmen, will nicht anmaßend sein. Doch ich bin es. Plötzlich bleibt die U-Bahn stehen. Die Türen öffnen sich zischend. Nur wenige steigen aus, dafür drängt eine große Masse von Menschen nach. Ich werde gestoßen und angerempelt, bleibe aber stur auf meinem Platz stehen, habe einen Arm erhoben und halte mich krampfhaft an einer der Schlaufen fest.

Ein junges Mädchen, das ungefähr achtzehn Jahre alt ist, schlängelt sich bis zu mir durch und bleibt dann stecken, eng an mich gepresst. Sie lächelt mich offen und ohne Scheu entschuldigend an. Ich grinse peinlich berührt zurück, bin mir des Kribbelns und meiner aufkommenden Körperreaktion voll bewusst. Ich kann es nicht verhindern und hoffe, dass sie es nicht bemerkt. Ich registriere Musik, höre das Bumbum irgendeiner Technomusik. Das ist nicht mein Geschmack, nicht meine Generation. Trotzdem lausche ich einem Moment der Melodie, die mir aus den Ohrenstöpseln des Mädchens entgegendröhnt. "Was wünsche ich mir?" Ich wünsche mir, dass das Mädchen endlich von mir abrückt und ich hoffe, dass sie es nicht tut. Die U-Bahn ist wieder quietschend stehen geblieben. Ich lese den Stationsnamen laut vor: "Klingenstraße". Es ist nicht meine Station und so steige ich nicht aus. Doch das Mädchen befreit sich von meiner erzwungenen Nähe und verschwindet im Gewühl der aussteigenden Massen. "Bitte zurücktreten, der Zug fährt ab!", höre ich den Zugführer genervt in sein Mikrofon sprechen und die Türen schließen. Ich fahre weiter. Der schlanke Zug rast durch die Dunkelheit. Aber im Inneren ist es hell. Bis das Licht zu flackern beginnt und dann gänzlich ausfällt. Die Menschen erstarren auf ihren Plätzen. Einen langen Moment ist es unheimlich still, nur das Knarren der U-Bahn ist zu hören. Dann geht das Licht wieder an. "Eine Stromschwankung!", ruft irgendjemand und die restlichen Passagiere stimmen stillschweigend zu oder lächeln erleichtert. "Was wünsche ich mir?" Ich wünsche mir, ich könnte endlich aussteigen. Doch der Zug fährt weiter, wird immer schneller. Ich bemerke, dass etwas nicht stimmt. Wir fahren viel zu schnell! Die U-Bahn nimmt eine Kurve. Ich schreie, doch mein Schrei geht im Tumult unter. Ich werde hin und her geworfen und lande auf einem kleinen Kind. Es reißt die Augen erschrocken auf, starrt mich anklagend an. "Ich wünsche mir, dass du mir nicht weh tust!" Ich blicke ihr in die hellblauen Augen, kann diesen Wunsch lesen. Es beginnt zu wimmern. Ich möchte ihr durch das blonde, lockige Haar streichen, möchte es beruhigen. Doch ich kann nicht. Meine Knochen beginnen zu vibrieren, als die U-Bahn entgleist und Stahl sich verbiegt, Funken sprüht. Das Metall schreit wie eine rollige Katze. "Was wünsche ich mir?" Ich wünsche mir, dass ich dieses Unglück überlebe und wünschte mir, ich hätte überlebt!

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Beitragvon Resi » Fr 5. Aug 2011, 17:29

Die kleine, morsche Veranda

Mein Kleid klebte mir wie eine zweite Haut am Körper. Ich öffnete langsam die oberen Knöpfe und wedelte mir mit einem Fächer Luft zu. Mein Standventilator war heute Morgen endgültig kaputt gegangen. Ich hätte in die Stadt fahren und mir einen neuen kaufen sollen. Aber das hatte ich nicht getan. Ich saß an diesem schwülen Nachmittag lieber in meinem schäbigen Schaukelstuhl auf meiner kleinen, morschen Veranda und hoffte auf den Regen, der noch nicht kommen wollte. Obwohl die Luft so dick war. Man konnte sie fast schneiden. Ich schaute auf den Sumpf. Meine Holzhütte stand im Mississippi-Delta. Das Delta wurde auch der nasse Vorhof zur Hölle genannt. Doch ich kannte nichts anderes, hatte mein ganzes Leben hier verbracht. Ein kleines Boot stand ruhig am Ufer. Ich hatte es gut befestigt. Träge vertrieb ich die Mücken, die mich nicht in Ruhe lassen wollten. Ich hatte mich mit diesen kleinen Biestern arrangiert. Durch meine Adern floss kaum Temperament. Wer hier geboren und aufgewachsen war, den brachte so schnell nichts aus der Ruhe. Plötzlich schreckten Vögel hoch, machten Lärm. Ein Mississippi-Alligator hatte Beute gemacht und vollführte gerade seine Todesrolle. Ich lächelte flüchtig. Angeblich durfte ich ein schönes und aristokratisches Lächeln mein Eigen nennen. Doch das glaubte ich nicht. Nichts in dieser Gegend war edel und elegant. Schon gar nicht die Menschen. Ich hatte einige Verehrer. Aber ich liebte nur meine Freiheit und war nicht bereit sie für einen Mann aufzugeben. Darum saß ich alleine auf meiner kleinen, morschen Veranda. In meinem schäbigen Schaukelstuhl, den ich von meiner Großmutter geerbt hatte. Ohne Ablenkung. Die Männer dieser Vorhölle schwatzten zuviel. Man hatte mich vor den Gefahren gewarnt und mir geraten, ich sollte endlich heiraten und Kinder bekommen. Zu meinem eigenen Schutz. Ich hatte sie ausgelacht. Mir konnte doch nichts geschehen. So ein Unsinn. Der Tag neigte sich seinem Ende zu. Ich entzündete eine alte Petroleumlampe und ging in meine Küche, holte mir ein lauwarmes Bier. Ich trank jeden Abend ein gutes Bier aus den Südstaaten. Das gehörte zu meinen Freiheiten. Ich musste mein Bier nicht teilen und niemand beklagte sich über meinen Kühlschrank, der nicht mehr richtig kühlte. Dann saß ich wieder in dem Stuhl. Die Lampe hatte ich neben mir abgestellt. Ich nahm kleine Schlucke und genoss das Schaukeln, hörte den Geräuschen des sumpfigen Lands zu. Sie waren mir bestens vertraut und machten mir keine Angst. Meine Augenlider wurden langsam schwer. Ich döste ein und mein halbvolles Bier rutschte mir fast aus der Hand. Plötzlich schreckte ich hoch, hielt die Dose krampfhaft fest. "Was war das?", fragte ich mich und war mir vollkommen sicher, dass mich Schritte aufgeweckt hatten. Fast vollkommen sicher. "Wer ist da?", rief ich laut und blendete die Tiergeräusche aus, die sich durch meinen Ruf gestört fühlten.

"Das ist mein Grund und Boden!", pochte ich auf mein Hausrecht und erhob mich hastig aus meinem Schaukelstuhl. Ich mochte diesen Stuhl. Doch jetzt verriet er mich, indem er beim Zurückschieben laut protestierte. "Ich hole meine Schrotflinte!", schrie ich weiter und meine Petroleumlampe wies mir mit seinem begrenzten Licht den Weg zur Vordertür. Sie stand noch immer am Boden. Ich hatte vergessen sie aufzuheben, sie an mich zu nehmen. Das zerrissene Moskitonetz der Vordertür streifte beim Öffnen zärtlich über meine Haut. "Ich werde schießen!", warnte ich eindringlich und bekam als Antwort ein heißeres Gelächter von zwei Personen. Ich wünschte, ich hätte keine Antwort bekommen. Danach war ich im dunklen Inneren meines Hauses. Ich schmiss hektisch liebgewordene Gegenstände zu Boden. "Klirr!", das war meine Vase. "Rums!", das war mein Küchenradio. Ich verschwendete keine Gedanken daran. Jetzt nicht. "Wo ist mein Gewehr?" Ich konnte es nicht finden. "Du musst dein Gewehr immer in Griffnähe haben!", hatte mich mein Vater gelehrt und ich hatte nie auf ihn gehört. "Kindchen, sei nicht so leichtsinnig!", erinnerte ich mich an seine Worte, die ich so leichtfertig in den Wind geschlagen hatte. Dann hatte ich mein Schrotgewehr endlich gefunden, hielt es in zittrigen Händen. "Ich muss einen Warnschuss abgeben", sagte ich laut und lud das Gewehr. "Knack, knack!" Es klang wie eine beruhigende und zugleich beängstigende Melodie. Eiligst verließ ich wieder mein Haus und trat ins Freie. Eine Mückentraube umschwirrte mich sofort, ließ sich auf meiner schwitzigen Haut nieder. Meine Vordertür knarrte langsam beim Zugehen und zerrte an meinen Nerven. "Ich schieße jetzt!", brüllte ich und ließ meinen Worten eine Tat folgen. Ein ohrenbetäubender Knall war zu hören und winzige Kugeln streuten in verschiedene Richtungen, als ich in den Nachthimmel schoss. Einen Augenblick später lud ich wieder durch. "Verschwindet!" Meine Befehl klang unsicher. "Hier sind wir!", hörte ich eine fremde Stimme und ich umklammerte das Gewehr fester, drehte mich in diese Richtung. "Ich habe kein Geld. Hier ist nichts zu holen!", überwand ich meine Angst, die mir die Kehle zuschnürte. Ich bemühte mich selbstbewusster zu klingen. "Wir wollen kein Geld!", kam eine Reaktion, die ich nicht wollte. "Geh dort rüber!", gaben sich die beiden Männer Anweisungen und ich wich auf meiner kleinen, morschen Veranda panisch zurück. Bis ich an die maroden Holzbretter meiner Hausfassade anstieß und nicht mehr weiter gehen konnte. "Was wollt ihr von mir?", fragte ich, obwohl ich zu wissen glaubte. "Schnell, pack sie!", konnte ich ein hastig geflüstertes Kommando hören und dennoch nicht reagieren. Dann waren die Männer bei mir, fassten mich an. Sie packten mich und wollten mir mein Gewehr aus den Händen schlagen. Ich wehrte mich. So gut ich konnte. Plötzlich löste sich im Gerangel ein Schuss. "Ich habe getroffen!", triumphierte ich, bevor ich das Gewehr fallen ließ oder es mir aus den Händen gerissen wurde. "Mach deine verdammten Beine breit!", raunten sie mir zu und faulige, warme Atemluft traf auf mein Gesicht. Sie drückten mich zu Boden, machten sich an meinen schlaffen Beinen zu schaffen, schoben mein Kleid bis zur Hüfte hoch. Doch ich bekam das kaum mehr mit. Aus einer großen Wunde quoll Blut und versickerte langsam neben mir, wurde vom Holz meiner kleinen, morschen Veranda aufgesogen. Ich röchelte leise: "Ich habe getroffen!"
Zuletzt geändert von Resi am Fr 5. Aug 2011, 17:33, insgesamt 1-mal geändert.

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Beitragvon Lunara » Fr 5. Aug 2011, 18:37

Saugut, fluchbringendes Weib :).
Ich habe bis an den Rand des Wahnsinns geliebt oder was man so Wahnsinn nennt.
Doch für mich ist das die einzig vernünftige Art der Liebe.
Das Flüstern der Dämmerung entsteht, wenn die Nacht sich häutet.

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Alyah
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Beitragvon Alyah » Mi 12. Okt 2011, 20:33

Die Prophezeiung

Es ist tiefe Nacht. Draußen geht Wind, der durch die großen Tannenbäume vor der Hütte fegt, deren Äste quietschend über das Dach streifen. Ragnar liegt auf ihrer Schlafstätte, die Augen vor Angst geweitet. Sie hasst die Dunkelheit, sie hasst die Nacht und noch schlimmer ist das schlechte Wetter. Solch eine Nacht nur ein Jahr zuvor ist es gewesen, als ihre Eltern geholt wurden.
Lange haben sie die Prophezeiung vor Ragnar geheimgehalten, sie wollten sie damals wohl schonen.
Draußen ächzen und stöhnen die Bäume, während sie sich im aufbrausenden Sturm immer wieder in eine andere Richtung biegen. Krachend brechen Äste, immer wieder stürzt ein Stück Holz auf die Hütte nieder. Und jedesmal zuckt die junge Frau zusammen. Das Feuer ist inzwischen heruntergebrannt, das Holz glimmt nur noch ein wenig. Ihr ist nicht wirklich kalt, denn sie liegt auf weichen Fellen und eingehüllt in mehrere Wolldecken. Dennoch fröstelt es sie. Am Liebsten würde sie aufstehen, das Feuer neu entfachen und einen Tee aufsetzen, doch das Wasser ist alle, um Neues zu holen, müsste sie hinausgehen und das ist ihr einfach unmöglich.
Wenn es nur endlich Tag wäre. Lange hält sie das nicht mehr durch, den Sommer über ging es ja noch, doch jetzt im Herbst würde es wohl zu einer echten Tortur werden, allein und weit weg von auch nur den kleinsten Dörfern hat sie keine Chance, diesem Leben in den nächsten Tagen und Wochen zu entkommen.
Wenigstens gibt ihr der Wald genug Nahrung, schon als kleines Mädchen hat ihr Vater sie mit auf die Jagd genommen, ihr beigebracht, wie man Fallen stellt, wie man Wild aus der Decke schlägt und was man außer Fleisch alles im Wald finden kann.
Bisher ist ihr das alles recht gut gelungen, es musste auch gelingen, eine andere Wahlt hatte sie ja nicht. Sie könnte die Strecke bis in das noch am nächsten gelegene Dorf sicher bewältigen, wenn sie nur wüsste, wo es liegt.
Stattdessen jedoch ist sie in der Hütte geblieben, hier wurde sie in einer lauen Frühlingsnacht gezeugt und wenn es nach ihr gegangen wäre, würde sie mit ihren Eltern auch bis zum Ende hier bleiben.
Nun jedoch ist sie alleine, ganz alleine.
Wieder knallt es, dann kollert der gebrochene Ast die Dachschräge hinunter und landet, leise knackend, im Laub. Rganar zittert inzwischen am ganzen Körper. Ihr bricht der kalte Schweiß aus, während sie sich immer weiter in die Felle einzugraben sucht. Wenn die Nacht doch nur endlich zu Ende gehen würde. Zu dieser Jahreszeit würde es zwar auch tagsüber nie ganz hell werden aber zumindest wären da dann wenigstens die gewohnten und eruhigenden geräusche. Vogelzwitschern, das Summen der letzten Insekten. Es ist ja nicht so, als wäre sie die einsamkeit nicht gewohnt, wie oft ist ihr Vater auch ohne sie losgezogen. Zwar ist dann ihre Mutter dageblieben...doch die festere Bindung bestand damals zwischen Ragnar und Gerond, ihrem vater, den sie abgöttisch geliebt hat. Er hat sie auf das Leben im Wald vorbereitet und ihr alles erklärt, was sie wissen muss. Doch hätte sie damals nie geglaubt, dass sie eines Tages ganz auf sich gestellt sein würde. Laut den Erzählungen ihrer Eltern ist ihre Verwandtschaft schon immer mit einer guten Gesundheit und einem langen Leben gesegnet gewesen. Dass sie jetzt...gerade mal 23 Wintersonnenwenden alt, ganz alleine leben muss, damit hätte sie damals niemals gerechnet.
"Die Prophezeiung trifft IMMER zu, sie macht keine Ausnahme!", diese Worte ihrer Mutter sind der jungen Frau im Ohr geblieben.
Sie ist schon immer mit einem gesunden Pessimismus gesegnet gewesen, dass hatte ihr damals auch Gerond erklärt, da hatten sie alle noch darüber gelacht. Ragnar hatte die Erzählungen für ganz normale Geschichten gehalten, niemals hätte sie angenommen, sie könnten eines Tages zutreffen, zu schauerlich waren sie, damals...wie auch bis zum letzten Jahr des gemeinsamen Familienlebens. Heute, genau vor einem Jahr jedoch, hat sie der Wahrheit ins Auge blicken müssen. Wirklich erkannt, hat sie in dieser Nacht nichts. Alles war plötzlich voller Nebel und wipernden Stimmen. Dann ging das Wispern in ein rauhes Murmeln über, bis es sich zu einem ohrenbetäubenden Kreischen gemischt hatte, in welches sich die spitzen Schreie ihrer Eltern gemischt hatte. Sie selbst war in jenen Augenblicken wie gelähmt. Ob vor Angst oder, weil ES es nicht zuließ...das weiß sie bis heute nicht. Bisher hat sie einfach nur gelebt, versucht, das Erlebte zu verarbeiten und irgendwie zu vergessen. Doch statt zu vergessen, hat sie es verdrängt, in die hintersten Winkel ihres Gedächtnisses verbannt. Nun, auf den Tag genau ein Jahr, kommt alles wieder hoch. Ihr laufen die Tränen über die schmalen und blassen Wangen. Als Kind hat sie nur geweint, wenn sie sich wirklich wehgetan hat oder erschrocken ist. Dann hat sie sich ihrem Vater an die Brust geworfen und der hat es in kürzester Zeit verstanden, seiner Tochter den Mut wiederzugeben. Nun würde sie das auch gerne tun, doch ist da niemand mehr. Und jetzt wird ihr das nur noch schmerzlicher bewusst. Sie würde so gerne schlafen, einfach vergessen und diese Ängste nicht spüren müssen. Doch lässt ihre Angst das nicht zu. Immer wieder geht der Blick gen Hüttentür, stets in der Erwartung schwarzer Nebelschwaden. Stumm spricht sie Worte, ein Gebet, eine Bitte, sie möge verschont werden. Inzwischen hat sich der Raum merklich abgekühlt. Doch registriert Ragnar das nicht, ihr ist so oder so kalt. Und so dunkel, wie es ist, fällt ihr nicht mal auf, dass ihr Atem in kleinen Dampfschwaden zur Decke aufsteigt. Ihr Körper schüttelt sich und ihr klappern die Zähne. Wie lang liegt sie jetzt schon da? Ist die Nacht nicht bald zu Ende? Müsste nicht gleich das erste Licht des Tages durch das Fenster scheinen?Auch die Vögel müssten doch langsam mal den Beginn des Tages ankündigen...oder nicht? Ragnars Atem wird immer schwerer, ihr Herzschlag immer lauter, ihr rauscht das eigene Blut in den Ohren. "das ist nur eine Panikattacke, da ist nichts, gleich ist es Tag!", redet sie sich immer wieder ein, sie muss sich beruhigen, das weiß sie. Schon als Kind hat sie solch Attacken gehabt, nur ganz selten aber sie weiß noch gut, wie verärgert ihre Mutter darauf reagiert hat und wie ihr Vater dann schlichtend und tröstend eingeschritten ist und sie schützend in die Arme genommen hat. Warum diese Attacken damals kamen, hat sie nie erfahren. Doch heute weiß sie es, ja, sie weiß es gut. Irgendwann in einem der letzten Jahre fiel mal ein Name...die Ahnende...angeblich sollte Ragnar so heißen, doch ihr vater hat das nicht zugelassen. Ragnar hat das nie verstanden, denn ihr wurde nie gesagt, WER diesen Zusatz verlangt hat. So viel sie heute auch weiß, so wenig weiß sie doch insgesamt. Und jetzt...bar jeglichen Trosts muss sie diese Angst aushalten.
Nicht mal verfluchen kann sie jemanden, sie ist alleine, ganz alleine...oder etwa nicht? Plötzlich schießt es ihr eiskalt durch die Glieder. Ist der Raum eben nicht etwas heller gewesen? Müsste es nicht endlich heller werden? Aber warum hat sie dann das grausige Gefühl, es wird nicht heller, sondern immer dunkler. Und wieso fängt die Scheibe der Hütte an, zu beschlagen? Inzwischen pocht ihr das Herz bis zum Halse. Dann setzt es plötzlich aus, als ein Wispern an ihr Ohr dringt. Es beinnt ganz leise, reicht jedoch schon aus, sie gänzlich in eine Art Starre zu versetzen. "Die Prophezeiung"...schießt es ihr in den Sinn...dann ist da plötzlich nichts mehr, nur noch ein langezogener, schauriger Schrei, der in der plötzlichen Leere der Hütte verhallt.

Dann wird es hell und die Vögel begrüßen einen neuen Tag.
"Das Leben ist wie eine Bleistiftzeichnung, nur ohne Radiergummi" (Radio)
Es ist nicht wenig Zeit,
die wir zur Verfügung haben,
sondern es ist viel Zeit,
die wir nicht nützen.

Seneca

Bild

Die Liebe ist nett und freundlich, doch ist sie des Verstandes Freund nicht. (Filmzitat)
"Träume nicht dein Leben, sondern lebe deine Träume"


Zitat: Rajah: *Alyah knutsch* bist n Engel


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