Gruselgeschichten

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Resi
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Gruselgeschichten

Beitragvon Resi » Di 26. Jul 2011, 12:44

Der Psychopath

Der Mann saß starr vor der Kamera. Sein dunkles, mattschwarzes Haar lag genau so, wie er es wollte. Er hatte sich deswegen sogar einige Haarbüschel ausgerissen – jetzt saß es endlich richtig! Sein Schnurrbart, der an einen Ziegenbart erinnerte, bewegte sich zittrig, als er zu sprechen begann: "Ich bin 35 Jahre alt und ledig. Ich suche dich...", er legte eine kurze Pause ein. "Du musst kurvenreich sein, ich bevorzuge bei einer Frau die Kleidergröße 40-44. Außerdem halte ich nichts von Emanzipation...", der Mann verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Abgesehen von dieser Grimasse sah er recht ansehnlich aus, vorausgesetzt man stand auf den hageren, bärtigen Typ. "Mein Haushalt liegt ganz in deiner Verantwortung. Gehorsamkeit setze ich bei einer Frau voraus und sofern du dazu bereit bist, werden wir gut miteinander auskommen." Er schloss kurz die stahlgrauen Augen und dachte an seinen Extraraum. Es ist sein Raum für Ungehorsamkeiten. Wie sie dort schon geschrieen haben, um Gnade gefleht haben. Aber sie waren selbst schuld – kein Erbarmen! "Melde dich...", mit diesen Worten schloss er die Annonce per Video ab. Er hob sich aus dem bequemen Sessel und schaltete die Billigkamera aus. Das wäre also erledigt. Jetzt brauchte er nur noch die Aufnahme an die Vermittlung in Russland schicken. Es wurde höchste Zeit. Sein Haus glich mittlerweile einem Schweinestall und ihm fehlte die weibliche Demut. Er brauchte das Gefühl der Allmacht. Der Mann blickte auf seinen Daumen der linken Hand. Dieser stand schief ab, war nicht mehr voll funktionsfähig. Er war nachlässig gewesen, hatte die kleine Hexe mit dem roten Haar nicht ordentlich befestigt. Diesen Überlebenswillen hatte er ihr gar nicht zugetraut. Er knirschte mit den Zähnen und im gleichen Moment miaute die Katze. Es war ein schwarz geflecktes Tier, ehemals niedlich anzusehen und gehörte dem Nachbarn, der zwei Häuser weiter wohnte. Der Bärtige hatte sie gestohlen. Als er sie eingefangen hatte, war sie gesund und zutraulich gewesen. Nun sah die Sache natürlich anders aus. Mit hinterhältiger Liebenswürdigkeit hatte er seinem Nachbarn angeboten, ihm beim Aufhängen der Zetteln: "Katze vermisst!", zu helfen. Was dieser aber dankend abgelehnt hatte. Das Tier miaute abermals, putzte sich das verdreckte und von Narbengewebe durchzogene Fell kraftlos. "Halts Maul oder ich verpass dir was!", drohte er dem Tier und der Drohung wären sicher auch Taten gefolgt, wäre da nicht der fröhliche Ton der Türglocke erklungen. Eine Weile starrte er die Katze gehässig an, die übrigens längst mehr tot als lebendig war und setzte sich in Bewegung, bahnte sich seinen Weg zwischen leeren Bierflaschen hindurch. Der Mann stand dann grimmig vor der Tür. Doch natürlich zwang er sich zu einem Lächeln, schließlich musste der Schein gewahrt werden! Mit einem Ruck öffnete er sie einen Spalt breit, damit man die Unordnung in seinem Haus nicht sah.

"Guten Tag!", vor ihm standen zwei uniformierte Polizisten. "Eine rothaarige Frau mit... stämmiger Figur wurde vom russischen Konsulat als vermisst gemeldet. Laut unseren Informationen hat Frau…", der ältere Polizist der beiden Uniformierten blätterte in einem Notizblock, las kurz darauf den Namen der Frau stockend ab und sprach flüssig weiter: "…eine Zeitlang hier gewohnt." Der Mann schluckte trocken und in seinem Gehirn rotierte es vor Angst. Doch da er gelernt hatte, in solchen Situationen die Fassade aufrecht zu erhalten und solchem Druck standzuhalten, bot er den Polizisten an: "Darf ich den beiden Herren vielleicht eine Tasse Kaffee anbieten?", höflich bewegte er den Kopf hin und her, damit er beide Polizisten offen ansehen konnte. Selbstverständlich wusste er, dass sie ablehnen würden. "Nein danke!", antwortete wieder der Ältere. Ansonsten sagten sie nichts, warteten seine Antwort ab. Schnell zwängte er sich durch den Türspalt hindurch, schloss die Haustür hinter sich und blinzelte aufgrund der angenehmen Morgensonne. "Ja, die Dame hat eine Weile bei mir gewohnt, doch ich entsprach nicht ihren Ansprüchen...", der bärtige Mann räusperte sich und ließ die mitleiderregenden Worte auf die Polizisten wirken. "Sie arbeitet jetzt angeblich in einem…", er druckste herum. "Sie wissen schon, in einem Club. Dort wo die Frauen auf Tischen tanzen und den Männern gegen entsprechendes Honorar… wissen sie was ich meine?" Die Polizisten sahen sich gegenseitig an, grinsten schmierig und nickten wissend. Es war doch immer das Gleiche mit den russischen Frauen. "Wenn sie etwas von der Frau hören, dann melden sie sich bei der nächsten Polizeiinspektion!" Der Mann war erleichtert, er hatte es wieder geschafft den Behörden auf der Nase herum zu tanzen. "Natürlich! Sie können sich darauf verlassen...", als die beiden Polizisten gegangen waren, verschwand auch er wieder im Inneren seines Hauses, zog die Vorhänge zur Gänze zu und genoss die Dunkelheit einen Moment. Er war erschöpft und ließ sich auf dem gleichen Sesseln nieder, auf dem er kurz zuvor gesessen war. "Verdammt, jetzt steht der nächste Umzug an!", bedauernd klangen seine halblaut gemurmelten Worte. "Es wird Zeit alle Spuren zu verwischen...", aber vorher wollte er sich noch etwas Spaß gönnen. Der Mann stand wieder auf, ging in die Küche und holte ein großes Hackbeil aus einer Schublade. Er bleckte bösartig die Zähne und rief: "Miezekatze, komm... feines Happiiiii gibt es!"
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Beitragvon Resi » Di 26. Jul 2011, 13:45

Der Stalker

Ein dreckiges und breites Grinsen war zu sehen, als der Mann den Feldstecher zur Hand nahm und an die Augen führte. Jetzt würde sie gleich unter die Dusche steigen und dann halbnackt, vor offenen Gardinen durch die Wohnung stolzieren. Wollüstern leckte er sich über die trockenen Lippen. Das war ganz eindeutig der Höhepunkt seines Tages. Aufgeregt knabberte er an dem Nagel des Mittelfingers. Nicht, dass es dort noch viel zu Knabbern gab, aber irgendwie musste er doch die Anspannung loswerden. Er blickte auf die Uhr. Jetzt war es kurz vor Acht und jeden Morgen um diese Zeit ging die Frau unter die Dusche. Immer, ausnahmslos! Als sich jedoch zur erwartender Zeit kein blond gelocktes und vom Schlaf zerwühltes Haar blicken ließ, sich kein schönes und rundliches Gesicht zu einem Gähnen entstellte, wurde er unruhig. Nicht mehr in gleicher Weise wie zuvor. Das Kribbeln in der unteren Körperregion war verschwunden, stattdessen breiteten sich Wellen der Wut in ihm aus. Zornig furchte er seine Stirn. Was bildete sich die Schlampe ein? Ließ ihn warten? Aufgebracht lief er hin und her, wie ein Raubtier im Käfig. Den Feldstecher presste er nun so fest auf seine Augenpartie, dass sich rote Abdrücke bildeten. "Wo bleibst du? Zeig dich mir, Baby...", zur Wut mischte sich jetzt auch noch die Verzweiflung. Den Tag ohne sie starten? Das war unmöglich und erst jetzt wurde ihm bewusst, wie abhängig er von dem Umstand ihres Duschens war. Der Mann lockerte den Griff um den Feldstecher, ließ diesen herabsinken und rieb sich mit der freien Hand über das Kinn. Das Kratzen der Bartstoppeln spürte er nicht, das Rasieren kam erst nach... nach ihrem Stolzieren an die Reihe. Gedankenlos begann er seine abgeknabberten Fingernägel in das Fleisch der Wangen zu versenken. Wäre er kein Nägelbeißer, hätte das wohl blutige Schrammen hinterlassen.

Sollte er in den Lift steigen, nach unten fahren, den Zebrastreifen überqueren, wieder den Lift nehmen, nach oben fahren, an die Türnummer 28 klopfen und... was dann? Bei dieser Frage blieb er stehen, beendete das unruhige Hin- und Herlaufen. "Hallo, ich bin der Mann vom Gebäude gegenüber. Ich bin der Mann, der dich jeden Morgen nach dem Duschen beobachtet. Dank dir habe ich wieder so etwas Ähnliches wie Sex. Ich brauche dich und dein Duschen. Könntest du bitte so gütig sein und schnell unter die Dusche hüpfen?", er lachte heißer und verrückt anmutend. "Oh, natürlich! Soll ich jetzt gleich oder willst du vorher wieder in deine Wohnung...?" Der Mann ahmte die Stimme und die Körpersprache einer Frau nach, unterbrochen von diesem Lachen, welches dann abrupt endete, als hätte man einen Schalter gedrückt. Wäre es so überhaupt das Gleiche? Würde es ihn dann noch immer so anmachen? Solche Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als sein Blick durch das eigene Fenster auf das Begehrte traf, ohne den Feldstecher. Hatte er sich nur getäuscht oder war da eben eine Bewegung? Das Fernglas zur Hilfe nehmend, nahm er das Gegenüber genauer in Augenschein. Er hatte sich nicht geirrt. Jemand war wach, sie war wach! Sogleich beschleunigte sich der Pulsschlag und im selben Takt regte sich etwas. Genau das brauchte er! "Komm schon Darling...", er flüsterte, so als wäre er in Wirklichkeit intim mit einer Frau. Leider hatte er keinen ungehinderten Einblick auf die Dusche. Dieser Umstand ärgerte ihn jedes Mal. Aber er hatte sich damit abgefunden. Solange sie zumindest danach nur mit einem Handtuch bekleidet zu sehen war. Oder manchmal ganz nackt. Er begann zu schwitzen und zu Brabbeln, begann das zu tun, was er in dieser Situation immer tat. Bis die Vorstellung der Realität weichen musste. Das was er plötzlich zu sehen bekam, glich einem Schwall kalten Wassers. Das war nicht sie, das war ein er! Jegliche Anspannung und Hitze verschwand. Er ballte die zuvor noch eifrig beschäftigte Hand, bis sich die Fingerknöchel weiß hervorhoben. "DU BETRÜGST MICH?", brüllte er eifersüchtig. Kurz nach dem Fremden erschien die Vertraute. Sie stand hinter dem Mann, beide unbekleidet und sie umarmte ihn. "Du elendige Schlampe!", er schrie seinen Schmerz heraus und es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn seine Wohnungsnachbarn jedes Wort verstanden hätten. "Ich bringe sie um, ich mache beide kalt!", wie von Sinnen lief er zu seiner Jägerausrüstung. Das Jagen war seine Leidenschaft, neben dieser Frau, die ihn vor seinen Augen betrog. Der Mann riss den kleinen Schrank auf, griff nach einem der drei Gewehre und nach Munition. "Euch mach ich alle, so kommt ihr mir nicht davon!", und er machte sich nicht einmal die Mühe das Fenster zu öffnen. Er zielte ruhig durch das geschlossene Glas und wusste in diesem Moment genau, dass er treffen würde. Er schoss.
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Beitragvon Resi » Di 26. Jul 2011, 16:13

Die Nonne

Der Wind jammerte schauderhaft als er durch die Ritzen des alten Gebäudes entlang streichelte und das spärliche Kerzenlicht neckisch, dann wiederum herrisch, zur Seite neigen ließ. Dabei gab er unselige Geräusche von sich. Sein Stöhnen und Seufzen hatte Ähnlichkeit mit einem lebendigen Wesen, das heftige Schmerzen ertragen musste und es doch nicht konnte. Regen prasselte unablässig auf das Gemäuer des Klosters. Es war wie das Klatschen einer tobenden Menge. "Irgendetwas hat unseren lieben Herrgott erzürnt!", war sich die alte Nonne sicher. Sie zuckte zusammen als der Ast eines Baumes an das hohe Fensterglas des Klosters schlug und die kleinen Verzweigungen ein Schaben verursachten: "Lass mich hinein, lass mich dich umarmen!" Das Fenster war mit aufwendiger Glasmalerei verziert. Es stellte die Sterbensszene Jesu dar, wie er am Kreuze hing und aus seinen Wunden blutete. Die Nonne bekreuzigte sich hastig und sah wieder vom Fenster weg. "Wenn es der Herr so gebietet, wird dieses Fenster halten!" Die Worte verdrängten jede Unsicherheit, gaben ihr Ruhe in dieser unruhigen Nacht. Sie schlurfte weiter in Richtung ihres Gemachs. Dabei musste sie an einem Wandfresko vorbei gehen. Wieder wurde dort eine unbarmherzige Szene dargestellt: Gottes Sohn, dessen Stirn von einer Dornenkrone maltätriert wurde und der sich, während er sein Kreuz einen Hügel hinaufschleppte, unter Peitschenhieben windet. Die Nonne blieb stehen, drückte ihren alten, ausgelaugten Körper an das Bildnis, die Hände erhoben und ließ dann ihre runzeligen Lippen sacht die Wand berühren. Sie küsste das von Schmerz verzerrte, liebliche Antlitz Jesu, so wie sie es schon seit Jahrzehnten tat. "Könnte ich an deiner Stelle sein, ich täte es!", seufzte die alte Nonne und ihr Seufzen vermischte sich mit dem des Windes. Die Nonne sank auf die Knie, die sofort gepeinigt protestierten. Doch auch das gehörte zu dem oft vollzogenen Ritual. Häufig mussten die anderen Glaubensfrauen der alten Ordensfrau wieder auf die Beine helfen, weil sie es nicht mehr aus eigenem Antrieb schaffte. "Vater unser, der du bist im Himmel…", begann ihr Gebet, welches sich über eine Stunde hinziehen sollte. "Mein Vater, mein Herr und mein Geliebter. Nur dein Wille geschehe, amen!", mit diesen Worten beendete sie ihre Demut, obwohl der Klostervorstand sie deswegen schon häufig abgemahnt hatte. "Mein Geliebter...", sie hatte ein Anrecht auf diese persönlichen Worte, denn sie war die Braut des Herrn und Gott hatte ihr noch nie einen Wink gegeben, dass sie sich nicht auf diese Weise von ihm verabschieden durfte. Still erhob sich die alte Frau, die Lippen nun fest aneinander gepresst. Denn so ließ sich die Steife der Knie und der Schmerz besser ertragen. Der Sturm der draußen wütete, machte sich nach wie vor im Inneren des Klosters bemerkbar. Doch die Nonne war wahrscheinlich die Einzige, die ihn bemerkte. Als die Jahre Spuren an ihrem Körper hinterlassen hatten und die Wehwehchen sich bemerkbar machten, konnte sie nicht mehr lange zur Ruhe kommen. Auch war sie immer die Erste, die sich zum Morgengebet in der kleinen Kapelle, unweit des Klosters einfand. Dafür schlief sie dann, zum Schrecken der Glaubensgenossen, manchmal mitten in der Predigt ein. Oder beim Frühstück, sowie zu anderen, unpassenden Gelegenheiten. Der Zeit konnte eben niemand ein Schnippchen schlagen.

Die alte Frau verschnaufte eine Weile, bevor sie sich wieder in Bewegung setzte. Sie ging jetzt wirklich an dem Fresko vorbei, dabei jenem Gemälde, das bis an die Decke reichte, keine Beachtung mehr schenkend. Bis sie letztendlich vor ihrer Kammer stand. Hinter der braunen, schweren Tür befand sich ein Bett, ein eintüriger Schrank, ein Nachtkästchen und ein Kreuz. Karg und zweckdienlich war die Einrichtung, ganz im Gegensatz zu dem eben überwundenen Gang. Plötzlich erklang ein lautes Scheppern: "Komm nicht herein!", einer Drohung und einer Warnung gleich. Trotzdem suchten gichtdeformierte Finger den Schlüssel zum dazugehörigen Schloss. Sie war müde und selbst wenn der Schlaf nicht kommen mochte, sehnte sie sich danach die Augen zu schließen und sich ihrer Phantasie hinzugeben. Es waren meist erotische Vorstellungen und sie handelten immer von ihr und ihrem Gott. Doch obwohl sie sich deswegen schämte und sich der Sündhaftigkeit voll bewusst war, konnte sie nicht davon lassen. Ihre unflexiblen Finger führten den Schlüssel sicher und dennoch zittrig. Mit vollem, zerbrechlichen Körpereinsatz versuchte die Nonne die Tür aufzudrücken. Sie klemmte und bewegte sich kein Bisschen. "Ich bitte um deinen Beistand...", vielleicht hatte sie nach ihrer Bitte einfach etwas fester gedrückt, vielleicht auch nicht. Letztendlich wurde die alte Nonne erhört und die Tür peitschte mit einem protestierenden Ächzen auf. "Ich danke...", sie unterbrach ihren Dank, als sie bemerkte, dass das Fenster weit offen stand und dem Wind Angriffsfläche bot. Mit bauschender Nonnentracht tastete sie nach dem Fenstergriff und erstarrte. Ihr Mund stand offen, gab Einsicht auf ein lückenloses Gebiss. Das konnte doch nicht wahr sein! "Oh mein Herr und mein Geliebter. Bist du es wirklich?", wispert die Nonne ungläubig. "Ja, ich bin es. Ich bin dein Herr und Gebieter! Komm, reiche mir die Hand und folge mir…", säuselte eine Stimme zurück, der nebulösen Gestalt vorm Fenster zugehörig. Die alte Klosterfrau erbebte vor unterdrücktem Verlangen und Sehnsucht. Ein wohliges Erschaudern nahm von ihr Besitz. Noch nie hatte sie so einen schönen Leib erblickt. Die Ähnlichkeit zu einem Bildnis in der Kapelle war sicher nur Zufall, das war kein Trugbild! "Bist du der Teufel, der mich in die Versuchung treiben will?", rief sie laut stöhnend und bot diesmal dem Wind Paroli. Die Gestalt erwiderte nichts, stattdessen begann sie sich langsam zu entfernen. Hastig lehnte sich die Nonne über das Fensterbrett hinaus, so weit es die Schwerkraft zuließ. "So warte doch, mein Vater, mein Herr und mein Geliebter!" Das mit tiefen Falten durchfurchte Gesicht der Frau verzerrte sich ängstlich. "Ich komme, ich folge dir…", und sie kletterte auf die Fensterbank, trotz ihrer körperlichen Mankos. Was beinahe einem Wunder gleichkam. "Fang mich auf, wiege mich in deinen starken, gütigen Armen. Ich gehöre dir und ich...", schrie sie in Ekstase und streckte eine Hand, damit ihr Gott diese ergreifen konnte. "...liebe diiiiiiiiich!"
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Beitragvon Resi » Di 26. Jul 2011, 19:10

Widernatürlich

Es ist lange her, viel zu lange und trotzdem bleibt ein übler Nachgeschmack. Die Bilder des Erlebten steigen in mir hoch. Aber nicht lebhaft, sondern eher wie ein verblasstes Foto, das zu lange in der Sonne gelegen hat. Flüchtig reibe ich mir über das blasse Gesicht und ziehe eine Fratze in der Erinnerung an ihr Kichern. Sie konnte nicht anders, als ich ihren Bauch mit meiner Zunge benetzt und eine Speichelspur gezogen habe. Seitwärts schaue ich auf ihre elfenbeinfarbenen Haut, ihren Körper. Viel zu üppig ist er. Doch man darf nicht wählerisch sein, wenn man gerade in einer Durststrecke ist. Auch ihr mädchenhaftes Zieren hat mich gestört. Ihr Gebaren hat mich an ein früheres Leben und an meine Teenagerzeit erinnert, als ein simpler Blick fast einem Kuss gleichkam. Nein, sie ist keine Femme fatale gewesen. Mich würde es auch sehr wundern, wenn sie in ihrem Leben schon mehr als eine handvoll Männer gehabt hätte. Aber das Kapitel ist für sie jetzt sowieso ad acta gelegt. Für immer, dank mir. Mein Blick bleibt an ihrem Haar hängen. Es ist blond, kurz und erinnert an eine Herrenfrisur. Ihre Nase ist viel zu lang, als wäre sie eine Inkarnation von Pinocchio. Ich schüttle den Kopf und sehe weg. Jetzt schiebe ich die leichte Tagesdecke vom Bett, betrachte die Flecken darauf. Anscheinend hält man in diesem Hotel nichts von Sauberkeit. Ich sehe Spuren der Vergangenheit, der Ekstase und der Hingabe. Sie hat sich mir auch aus freien Stücken hingegeben und ich bin ihrem Willen nachgekommen, eine Zeitlang. Bis ich meinen Willen eingefordert habe. Ich bin gewohnt zu bekommen was mir zusteht. Sie hat sich kaum gewehrt. Ich bin mir sicher, dass sie nicht einmal wusste, wie ihr geschah. Es ist für mich selbst auch unbegreiflich. Ich bin ein Ding, eine Widernatürlichkeit. Das beschönige ich nicht. Ich existiere und muss mich dieser Existenz stellen. Ich wünschte, ich könnte dem Ganzen ein Ende setzen. Doch ich bin schwach und folge meiner Natur.

Nun stehe ich nackt vor dem Bett. Ich entledige mich immer meiner Kleidung. Es gaukelt Normalität vor und ich klammere mich an diesen Strohhalm. Langsam streichle ich ihr über die Wange. Sie fühlt sich nicht mehr warm an und ich hasse das. Ich mag diese Kälte nicht, wenn sie sich so anfühlen wie kalter Marmor. Mit einem geübten Handgriff schließe ich ihre Augen. Man muss schon Erfahrung haben, die Augenlieder sträuben sich nämlich gerne. Ich könnte darüber eine Doktorarbeit schreiben: "Wie lassen sich starre Augen am besten schließen?", verfasst von mir, der widernatürlichen Bestie. Ich beginne ungezwungen zu sprechen, benehme mich wie ein Liebhaber, der auf seine schlafende Liebste einredet damit sie erwacht. Auch das mache ich aus einem bestimmten Motiv heraus. Denn ich laufe einer Normalität hinterher, die ich herbeisehne und die mir doch verwehrt bleibt. Ich bin noch nicht bereit mich vollkommen zu akzeptieren. Ich wahre den Schein. Aber ich bin zuversichtlich. Irgendwann hört jedes Sträuben auf. Auch das weiß ich aus Erfahrung. Ich berühre sie nicht mehr, denn das Anfassen lässt mich die Realität erkennen. Trotzdem unterhalte ich mich weiter. Doch ich kann mir nicht mehr lange etwas vormachen. Ich spüre diese Kälte, ihre Kälte, die sie ausstrahlt und die mich anklagt. Darum komme ich zu dem Entschluss, dass sie nun einfach ihre Ruhe haben will. "Ruhe in Frieden!", verabschiede ich mich und bilde mir, dass ich sie ein kleines bisschen geliebt habe. Dann ziehe ich mich an und gehe.
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Beitragvon Resi » Di 26. Jul 2011, 20:41

Wach

"Was, was…?", ich versuche mich zu orientieren. Es gelingt mir nicht und so achte ich auf meinen Körper, hebe einen Arm und... nichts passiert. Ich bekomme Panik, frage mich: "Bin ich tot? Sieht so der Tod aus?" Ich muss die Ruhe bewahren. "Sei ruhig!", ermahne ich mich und kann spüren, wie sich meine Schweißdrüsen weiten und ich zu schwitzen beginne. Ein Rinnsal bildet sich auf meiner Stirn und ich will es wegwischen. Ich kann nicht. So bleibt mir nichts anderes übrig, als seine Laufbahn zu beobachten, zu fühlen. "Nicht ins Auge, nicht ins Auge!", flehe ich inständig und bin erleichtert, als es von meinen Augenbrauen abgeleitet wird. "Das war Glück!", denke ich mir und möchte lachen. Ich bleibe stumm. "Glück? Ist das Galgenhumor?" Erst jetzt registriere ich, dass meine Augen zugeklebt sind. Ich kann sie nicht öffnen und trotzdem bemerke ich die Helligkeit, dieses grelle Licht. "Können wir?", höre ich eine dumpfe Frauenstimme. "Ja, alles in Ordnung!", wird eine Antwort gegeben. "Was passiert hier?", doch ich bekomme keine Reaktion auf meine Frage, die niemand hört. Stattdessen höre ich Musik, ein klassisches Musikstück. Es wirkt nicht beruhigend auf mich, denn langsam beginne ich zu verstehen. "Sie haben noch nicht angefangen!", schreie ich und schweige dennoch. "Nein!!! Bitte, bitte nicht..." Ich spüre, wie man in meine Haut schneidet, kann Hände in mir fühlen, sie wühlen in meinen Eingeweiden. Sie foltern mich! Ein Strudel von Schmerz reißt mich fort und doch nehme ich alles wahr. "Ihr tötet mich!", versuche ich mich über diesen Vernichtungsschmerz hinweg bemerkbar zu machen. Es hat keinen Zweck. "Aufhören, ich sterbe...", aber ich sterbe nicht. Noch nicht. "Wir müssen...", lausche ich wieder dieser Frauenstimme. Doch der Rest bleibt unverstanden. Ich kann den Sinn nicht einordnen, bin in meiner Konzentration auf mich fixiert. Dann versuche ich wieder zu schreien, versuche mich bemerkbar zu machen. "Daaaaa! Habt ihr das denn nicht gesehen?", niemand achtet auf mich. Auch nicht auf meine Tränen, die das Klebeband an meinen Augen aufquellen lassen. Ich kriege keine Luft, aber ich will atmen! "Das wäre erledigt, zunähen...", ein Klirren und Scheppern dringt an mein Ohr. "Schwester? Ich sagte...", dann verliere ich langsam das Bewusstsein. "ICH BIN WACH!", versuche ich es noch ein letztes Mal, ehe mich die Dunkelheit umfängt und ein schriller Alarm Mozarts fünfte Symphonie und dessen Intonation zur Groteske verzerrt. "Piiiiieeeeep!", das EKG zeigt die Nulllinie an und ich bin endlich erlöst.
Zuletzt geändert von Resi am Fr 29. Jul 2011, 16:24, insgesamt 4-mal geändert.

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Beitragvon Resi » Di 26. Jul 2011, 23:37

Der Kleiderschrank

"Leise, sei leiser!", ermahnte sich die Frau und schloss dabei die Augen, versuchte ihr panisches Hecheln zu unterdrücken. Sie bemühte sich krampfhaft normal ein- und auszuatmen. "Er wird mich entdecken!", bei dieser Vorstellung begann sie noch heftiger zu schwitzen, die Kleidung klebte ihr am Körper wie eine zweite, übelriechende Haut. Die Frau öffnete die Augen und schielte durch die Ritzen des Kleiderschranks, um erkennen zu können... nein! Sie wollte eigentlich nicht sehen, nichts davon. Aber alles war in diesem Moment besser als die Ungewissheit. Sie blinzelte ein paar Mal reflexartig und konnte den Flur trotzdem mehr erahnen, anstatt erkennen. Doch das war auch nicht so wichtig, sie kannte diesen Gang schließlich gut genug, kannte ihn in- und auswendig. Ihre Aufmerksamkeit galt ihm, galt dem Schatten, der ihn ankündigen würde. Einige Minuten waren vergangen und sie saß noch immer unentdeckt in ihrem fast dunklen und stickigen Versteck. Langsam beruhigte sich ihr Atem und sie streckte tastend eine Hand aus. Zuerst streiften die zittrigen, langgliedrigen Finger eine Kiste entlang, befühlten die Ecken und Kanten. "Der Weihnachtsschmuck", stellte sie richtig fest. Danach berührte sie den wollenen Stoff eines Winterpullovers. Schutzsuchend und um sich ein wenig geborgen zu fühlen, griff sie nach dem Kleidungsstück, umarmte die Wolle und rieb ihre Wange daran, inhalierte den Duft, bevor sie den Pulli angeekelt von sich warf: "Das riecht nach ihm!" Plötzlich veränderte sich das spärlich einfallende Licht, das durch die Spalten des Schranks kroch und ihre nackten Beine nun in ein anderes Muster tauchte. Sofort machte sie sich noch kleiner, sackte verkrampft in sich zusammen. "Bitte lass ihn weiter gehen. Geh weg!", flehte die Frau ohne ein Wort zu verlieren und horchte angestrengt auf ihren immer lauter pochenden Herzschlag. So saß sie erstarrt in diesem Kleiderschrank, traute sich nicht sich zu bewegen. Ihre Augen huschten jedoch hektisch, tanzten einen Tango der Panik. Sie konnte es nicht unterdrücken. Stille! Bis sie ein leises Mauzen hörte. Es war ein drängender und auffordernder Laut. Die Frau war irritiert, wusste nicht mit dieser Situation umzugehen, bevor sie erleichtert tief Luft holte. Aber nur einen kurzen Moment, denn dann wurde die Frau wieder von entsetzlicher Angst ergriffen. "Verschwinde!", flüsterte sie ihrem Stubenkater leise zu. Doch das Tier war stur und schärfte seine Krallen an der Schranktür. Denn sein Frauchen sollte gefälligst den Kleiderschrank öffnen und ihn streicheln!

Auf einmal war ein lautes Klappern und Scheppern zu hören. Jemand hatte eine Besteckschublade zu weit herausgezogen und die Lade, inklusive seines Inhalts, fielen auf den verfliesten Küchenboden. Kurz darauf war ein Brüllen zu hören, ein cholerischer Wutanfall, der ihr bestens bekannt war. Die Frau zuckte erschrocken zusammen und kroch ein wenig tiefer in den Schrank hinein. Dabei kippte ein Stapel alter Bettwäsche um. Sie nahm es kaum wahr, sondern lauschte den schweren Schritten, Schritte die torkelnd eine Treppe hochstiegen. "Wo hast du dich versteckt? Wo bist du, du verdammte Hure? Ich krieg dich und dann…", sie wusste aus Erfahrung, dass sie besser antworten sollte, dass er keine leere Drohungen von sich gab. "Bleib doch weg und schlaf deinen Rausch aus! Lass mich in Ruhe, bitte...", flehte sie inständig und als hätte er ihre Gedanken erraten, brüllte er wieder seine Drohung: "Ich krieg dich und dann gnade dir Gott!" Entsetzt dachte die Frau an den Kater, der sie verraten würde. Aber sie war unfähig etwas anderes zu tun, als still auszuharren. Ihr Puls schlug weiterhin die Ouvertüre zum Herzinfarkt, ehe es draußen wieder still war. Vom Adrenalin aufgeputscht, kam wieder Bewegung in sie und die Frau rutschte noch weiter zurück, bis sie am Schrankende anstieß und polternd irgendeinen Gegenstand umstieß, Krach verursachte. "Jetzt habe ich dich!", ein perverser Triumphschrei folgte, beinahe vom Aufkreischen des Stubenkaters übertönt, den er wie Dreck beiseite trat. Dann wurde die Tür aufgerissen, fast aus den Angeln gehoben. Die Frau starrte entsetzt und gleichzeitig hypnotisiert auf das Messer in seiner Hand, das im diffusen Licht perfide funkelte. Er packte sie an den Haaren, riss sie zu sich und blies ihr seinen alkoholgeschwängerten Atem heiß ins Gesicht. "Jetzt habe ich dich...", wisperte er ihr lallend zu. Sie blieb stumm. Erst als ihr Ehemann das Messer auf sie zupreschen ließ, da fand sie ihre Stimme wieder. Sie schrie und schrie und dann... schrie sie nie wieder.
Zuletzt geändert von Resi am Sa 30. Jul 2011, 14:30, insgesamt 8-mal geändert.

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Beitragvon Resi » Mi 27. Jul 2011, 15:47

Verrückt

Eine Frau stand am Fenster und blickte in die Dunkelheit hinaus. Die einzige Lichtquelle war eine schmutzige, kleine Öllampe, denn der Mond schien keine Lust zu haben gegen den bedeckten Nachthimmel anzukämpfen. Im schummrigen Schein der Lampe zeichnete sich ihre schattenhafte Silhouette ab, deutete die Kontur ihres Körpers an und verhalf so dem sehr langem Haar zur morbiden Geltung. Man nannte sie früher deswegen oft liebevoll Rapunzel. Ihr gefiel dieser Kosenamen immer besonders gut, er machte sie zu etwas Besonderem. Langsam wickelte sie eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger, spielte grob und gedankenverloren damit, dachte über die Vergangenheit nach. Wie lange war es her, seit sie dieses alte Haus gekauft hatte? Sie konnte sich noch gut erinnern, wusste auf die Uhrzeit genau, wann sie ihre mädchenhafte Unterschrift unter den Vertrag gekritzelt hatte. Der Immobilienmakler, ihr Exfreund und sie, standen ungefähr am selben Platz am Fenster und sahen in den verwilderten Garten hinaus. "Einen Stromanschluss hat der vorherige Eigentümer leider immer entschieden abgelehnt. Er war ein seltsamer, alter Mann...", der Makler lächelte die zwei Turteltauben entschuldigend an. "Aber ich habe deswegen mit dem hiesigen Stromversorger gesprochen und die Geschäftsleitung hat mir glaubhaft versichert, dass die Kosten der unterirdischen Leitungen sich in einem leistbaren Rahmen bewegen... das Haus würde dadurch immens im Wert steigen!" Sie hörte kaum zu, sein Verkaufsgespräch war nämlich gar nicht mehr notwendig gewesen. Sie wollte dieses Haus kaufen, der Entschluss stand längst fest. Langsam und sehr verliebt, drückte sie die Hand ihres Freundes und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Sie mochte dieses Haus, wünschte sich darin alt zu werden, hier gemeinsam Kinder großzuziehen. Die Frau bat um den Vertrag. "Sie werden sehr viel Freude mit dieser Investition haben. Grundsolide Bausubstanz rentiert sich immer!" Sie wünschte sich inständig, er würde endlich schweigen. "Seien sie doch still, sie verderben diesen Augenblick!", schrie die Frau innerlich auf. Das sollte doch ein magischer Moment sein, sollte der Auftakt zu einem gemeinsamen Eheleben werden. Sie schwieg. Stattdessen nickte sie eifrig, griff nach dem Kugelschreiber und Vertrag, die ihr der Immobilienmakler mit einem schmierigen und selbstgefälligen Lächeln überreichte. "Die Pendeluhr schlug dreimal! Dreimal schlug die Pendeluhr!" Der Makler bot hilfsbereit an, seinen Rücken als Unterlage für die Unterschrift zur Verfügung zu stellen. Dieses Angebot lehnte sie aber entschieden ab. Sie wollte ihren neuen Lebensabschnitt nicht auf dem Rücken eines Fremden beginnen. Das wäre ein schlechtes Omen gewesen. Stattdessen legte sie den Vertrag auf das morsche Fensterbrett und kritzelte zuerst ihren Vornamen: Anna. Beim Nachnamen stockte sie kurz, ehe sie mit Schmidt diesen Kauf rechtskräftig machte. Das war an einem warmen, sonnigen Nachmittag, als die reparationsbedürftige Pendeluhr die dritte Stunde einläutete.

Traurig wischte sich Anna die Tränen ab. Es waren Tränen des Kummers, aber auch der Gewohnheit. Geblieben ist ihr nur dieses Haus: "Solide Bausubstanz!", kicherte sie hysterisch, nachdem sie den Immobilienhändler nachgeäfft hatte und hörte erst dann zu lachen auf, als sie sich zum ersten Mal ernsthaft die Frage stellte, ob sie denn wirklich verrückt geworden sei. Ihre engsten Freunde schauten sie seit einer Weile immer mit diesem merkwürdigen Blick an. Mitleidig und herablassend, sofern sie Anna überhaupt noch besuchen kamen. "Hübsch aber verrückt. Das Ende der Beziehung hat sie nicht verkraftet...", tuschelten sie hinter ihrem Rücken. "Anna hat nicht mehr alle Tassen im Oberstübchen!", machten sie sich auch über sie lustig und gaben ihr den gut gemeinten Rat, dass sie das Haus endlich verkaufen sollte. "Hier kann man doch nur auf verrückte Gedanken kommen!" Doch Anna schüttelte nur stur den Kopf. "Bin ich verrückt geworden?", wiederholte sie diesmal laut ihre Frage und sah in das kreisförmige, begrenzte Licht der Öllampe hinein, dessen diffuser Schein sie plötzlich in seinen Bann zog und ihre vollkommene Aufmerksamkeit verlangte. "Was hast du gerade gesagt?", ging sie einen Schritt näher, kippte lauschend den Kopf und kratzte sich nervös über die Oberarme, bis sich blutige Striemen zeigten. Das vertrieb wenigstens die Gänsehaut. Dann presste sie ihre Nase an das heiße, schmutzige Glas. Anna bemerkte es nicht einmal. "Was hast du gesagt?", begann sie zu brüllen und griff nach der Lampe. "Hör auf, hööööör auf!", kreischte sie und schleuderte die Lampe von sich, die klirrend am Boden zerschellte und dessen Inhalt langsam eine streng riechende Pfütze bildete. Danach nahm sie ihren Kopf zwischen die Hände, drückte schraubstockartig zu: "ICH BIN NICHT VERRÜCKT!"
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Beitragvon Resi » Do 28. Jul 2011, 14:31

Es klopft

Jemand klopft laut an meine Tür. Nur einmal, aber ich schrecke dennoch aus meinem Schlaf. Ich brauche einen Moment um mich orientieren zu können. Erst dann schalte ich meine Nachttischlampe ein und setze mich auf. Ich blicke auf das zerwühlte, noch körperwarme Bett. Ich möchte mich wieder hinlegen. Trotzdem greife ich zu meinem Hausmantel. Ich streife ihn über. Er fühlt sich gut an, kitzelt sanft meine Haut. Ich fahre mir durch mein wirres Haar und rufe verschlafen: "Wer ist denn da?" Aber ich bekomme keine Antwort. Es ist wieder still. Der Türspion! Ich tapse mit nackten Füßen auf die Tür zu und luge hindurch. Doch auf der anderen Seite ist nur die Dunkelheit zu sehen. Verwirrt schaue ich noch einmal. "Ich habe geträumt... nur ein Traum!", flüstere ich und entscheide mich, wieder in die Wärme meines Bettes zurückzukehren, als es abermals klopft. Diesmal zweimal. Mein Herz gerät ins Stolpern. Also doch kein Irrtum! "Ja, ich bin wach!", klage ich an. Danach ist nur das Knarren des Dielenbodens zu hören, als ich wieder zur Tür zurück schlurfe. "Soll ich aufmachen und nachsehen? Nein, ich werde nicht öffnen...", spreche ich laut. Vielleicht um die Angst zu vertreiben, die sich meiner bemächtigen will und presse mein rechtes Auge wieder gegen den Türspion. Weiterhin ist niemand zu sehen. Ich runzle die Stirn, sie ist ein bisschen zu schmal geraten. "Das ist nicht lustig!", schreie ich und denke an ein Kind, das mir einen üblen Streich spielen will. Meine haselnussbraunen Augen fokussieren die Wanduhr, folgen dem Zeiger. "Das kann kein Kind sein...", korrigiere ich mich. "Es ist kurz nach ein Uhr!" Jetzt ist meine Müdigkeit komplett verschwunden, ich bin wach und zornig. "Verdammt! Was soll das?", meine Stimme überschlägt sich. Doch ich bekomme noch immer keine Antwort, kann nur das Ticken der Uhr hören und es zerrt an meine Nerven. Ich fische eine der naturgewellten, schwarzen Haarsträhnen aus dem Mund. "Du willst also nichts sagen? Dann gehe ich wieder ins Bett...!" Aber ich rühre mich nicht vom Fleck, bleibe stehen. "Ich bin schon faaaaast im Bett!", kündige ich an und mache laute Schritte am Stand. Einen Moment später lege ich mein Ohr an die Tür und lausche angestrengt. So bleibe ich stehen, atme flach.

Die Minuten vergehen wie im Flug und ziehen sich trotzdem wie Kaugummi, denn ich werde wieder müde. Ich spüre, wie die Müdigkeit meinen Körper einnimmt und an meinem Geist zerrt. Ich kann mein Gähnen nicht unterdrücken, obwohl ich es versuche. Ich will jetzt wirklich wieder ins Bett zurück. Plötzlich kratzt es an der Tür. Es klingt wie das Aufschreien einer Kreidetafel. Dann ist es wieder still, bis auf das unbarmherzige Ticken des Zeigers. "Du machst mir keine Angst!", behaupte ich. Doch meine Gänsehaut bezichtigt mich der Lüge. "Perverser!", schimpfe ich und lege meine Hände auf die Kühle des Holzes, stemme mich gegen die Tür. Ich will eine zusätzliche Barriere sein. "Lass mich in Ruhe!", bettle ich und fordere ich. "Ich lasse dich nicht hinein!", das ist nichts als die Wahrheit. "Was willst du denn von mir?", möchte ich wissen und meine Lippen streifen beim Sprechen das lackierte Weiß, ehe das metallische Klicken des Türspions ertönt und ich abermals in die Dunkelheit des Hausflurs spähe. "Hast du mich verstanden?", frage ich und meine eigene Stimme jagt mir einen Schauer über den Rücken. Ich weiche etwas zurück und zucke erschrocken zusammen, als es nun dreimal heftig an der Tür klopft. Nichts weiter, nur dieses Klopfen. Ich antworte, indem ich wild zurücktrommle und kann doch nichts anderes hören, als das Rauschen meines Bluts. Ich verausgabe mich, bin erschöpft und beginne zu verhandeln: "Soll ich dir etwas Geld durch den Bodenspalt zuschieben?" Ich weiß nicht, warum ich diesen Vorschlag mache. Aber es fühlt sich richtig an. Doch ich bekomme nicht die erwartete Reaktion. "Ich rufe die Polizei!", kreische ich. Meine Stimme überschlägt sich einen Augenblick panisch und danach verstumme ich abrupt, als hätte jemand einen Stummschalter gedrückt. Ich beginne zu laufen, laufe in mein Bett und ziehe mir die Decke über den Kopf, nehme darunter die Embryonalstellung ein. Ich hechle, als hätte ich eine Marathonlaufstrecke hinter mich gebracht und bekomme dennoch nicht ausreichend Luft. Aber ringe verzweifelt darum. Dann klopft es wieder. Viermal. "Es klopft jemand viermal an meine Tür!" Ich habe keine Ahnung, was das zu bedeuten hat. Doch ich spüre die Bedrohung, sie kriecht in mich hinein und lässt mich frieren. Ich zittere am ganzen Körper und hoffe auf den Morgen. Hoffentlich überlebe ich diese Nacht.
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Beitragvon Resi » Fr 29. Jul 2011, 16:12

Liebe deinen Nächsten

"Ich will nicht!", doch wie sehr ich mich auch sträube und wehre, ich entkomme diesem Irrsinn nicht. Ich kann mich dem morbiden Adventzauber einfach nicht entziehen und bin mir seiner falschen Besinnlichkeit voll bewusst. "Liebe deinen Nächsten!" Aber man ist sich selbst der Nächste. Ich laufe diese Einkaufsstraße entlang und bekomme jene vorweihnachtliche Liebe ungeschminkt zu sehen. Ich blicke auf die Menschentraube, auf diese willenlosen Marionetten. Sie werden von Fäden des Marketings gezogen und sind gesteuert von einer dicken Lüge des Kommerzes. Diese gestressten Leute, diese hysterisch Getriebenen, schieben mich gegen meinen Willen in eine unbestimmte Richtung. Ich senke den Blick weiterhin nicht, bleibe stur und lasse mich nicht von den vielen Glitzerkugeln, den Girlanden und dem aufgesetztem Lächeln der Marionetten blenden. Ich nehme einen alten Mann wahr. Er sieht ungepflegt aus und schläft betrunken unter einer verdreckten Decke, in einer unbeleuchteten, klammen Ecke. Die Leute drängeln sich an ihm vorbei, streifen ihn mit ihren Einkaufstüten und bemerken es nicht einmal. Sie können auch nicht auf ihn achten, denn sie haben einen Auftrag: "Liebe deinen Nächsten!" Am 24. Dezember, unter dem Weihnachtsbaum. Aber ich sehe hin. Ich will mit solchen Exemplaren zutun haben, will mit ihm in Berührung kommen. Er macht mir keinen Zauber leidig, denn ich erkenne die Wahrheit. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die einen Weihnachtsmarkt besuchen und dort dann eine der geschnitzten Krippenfiguren kauft, die jemand erschaffen hat - dank eigener Hände Arbeit und trotz einer Behinderung. Ich stehe außerhalb von dieser feinen Gesellschaft, die solcherart ihren Sold an Mitgefühl erfüllt sieht und sich danach darüber ärgert, dass das Ding so teuer gewesen war. Ich bin kein guter Mensch, auch nicht politisch korrekt. Denn ich sage Behinderung und nicht: "Ein Mensch mit besonderen Bedürfnissen!" Dafür nehme ich den Coca-Cola Weihnachtsmann nicht zur Kenntnis, der mich mit seinem penetranten: "Hohoohooo!", in den Wahnsinn treiben will. Diesen Kampf habe ich gewonnen. Es ist nur ein kleiner Teilsieg. Aber ich genieße ihn. Der alte Mann ist wie ich. Wir kurbeln die vorweihnachtliche Wirtschaft nicht an und trotzdem sind wir wichtig, sind ein Teil davon. Plötzlich fühle ich mich nicht mehr so alleine. Ich bin ihm dankbar und freue mich aufrichtig, als ihn endlich eine der Marionetten bemerkt. Sie wirft ihm einen Euro vor die schlafenden Füße. Ich bin dennoch enttäuscht. Doch ich habe nichts anderes erwartet. Er gibt ihr mehr, als sie zu Geben bereit ist. Es ist der geringste Aufwand für den größtmöglichen Nutzen.

Wie kann man sich sonst so einfach ein gutes Gewissen verschaffen? Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass sie sich bald an einem üppig gedeckten Tisch den Bauch vollschlagen wird. Und sie wird sich im guten Recht fühlen, denn sie hat mit diesem einem Euro dafür gesorgt, dass ein alter, alkoholkranker Mann für einen Moment Hoffnung haben darf. Auch wenn er nichts davon bemerkt. Nächstes Jahr, zur gleichen Zeit, sind dann die armen, ausgemergelten Kinder aus Afrika an der Reihe. Bis dahin hat sie sich sicherlich auch das Zuviel an Hüftspeck hinuntergehungert und ihre Wage schlägt nicht mehr so unerbittlich in Richtung dreistellige Zahl aus. Ich sehe ihr nach. Aber verliere sie nach diesem kurzen Moment in der Masse. Irgendwie sehen diese Marionetten alle gleich aus, trotz der Unterschiede. Dann neigt sich die Geschäftzeit dem Ende zu. Gitterrollläden werden hinuntergelassen, das Licht in den Schaufenstern erlischt. Die Menschen haben wieder einen Tag im Advent erfolgreich hinter sich gebracht. Jetzt sind sie müde, wollen nach Hause. Morgen beginnt der Spaß auf das Neue. Morgen ist schließlich auch noch ein Tag der Friede-Freude-Eierpunschzeit. Man kann sich also getrost auf die abendlichen Streitereien freuen. Nun werde ich nicht mehr geschoben, gehe aus freien Stücken auf den alten Mann zu. Ich setze mich neben ihn. Er rührt sich nicht. Ich schüttle ihn. Wieder nichts. Ich bekomme ein ungutes Gefühl, obwohl ich das Warum noch nicht begreife. Dann ziehe ich seine verschmutzte, dünne Decke weg. Ein strenger Geruch strömt mir in die Nase. Ich ignoriere es. Doch mir ist jetzt endlich bewusst geworden, dass er die Decke nicht mehr brauchen wird. Ich nehme sie an mich und wickle mich darin ein. Ich inhaliere den Gestank des Todes, nehme ihn durch meine Poren in mich auf, werde ein Teil vom Todeskampf des alten Mannes. Ich greife nach dem Euro. Ich bestehle einen Toten. Doch daran ist nichts Falsches. "Liebe deinen Nächsten!" Ich liebe den alten Mann, liebe ihn dafür, dass er ihn nicht mehr ausgeben kann. Denn ich habe sein Leben noch vor mir. Ich lebe auf der Straße.
Zuletzt geändert von Resi am Fr 29. Jul 2011, 16:27, insgesamt 1-mal geändert.

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Beitragvon Resi » Sa 30. Jul 2011, 12:17

Bohnengulasch

Hannelore war eine zierlich gebaute und eine sehr jung aussehende Frau. Sie war erregt, aber ihre Aufregung war nicht von freudiger Natur, sondern hatte das Gegenteil zum Ursprung. "Bald ist es soweit... schon bald!", sprach sie leise ins Nichts. Dabei entstand langsam ein falsches Lächeln auf ihrem Gesicht und ließ es zur Groteske verkommen. "Frohes, neues Jahr!", übte sie den alljährlichen, wiederkommenden Trinkspruch. Diesmal aber laut, energisch und selbstbewusst, während sie eine große Menge von einer süßlich riechende Flüssigkeit in das traditionelle Bohnengulasch schüttete, das am Herd ihrer Küche leise blubbernd einköchelte. "Ding Dong!", hörte Hannelore einige Zeit später die Türglocke. Eilig legte sie die Schürze ab, strich sich über das kurz geschnittene Haar, öffnete die Eingangstür und spielte die erfreute Gastgeberin. Es war eine sehr gelungene Familienparodie und sie war stolz auf sich. Die Eintretenden bemerkten diese kleine Horrorkomödie jedoch nicht. Ihr Vater verlangte nach einem Bier und ihre Mutter murmelt ein unterwürfiges: "Ja, gleich!" Alles war wie eh und je. Alles, bis auf das Bohnengulasch und Hannelore, die gerade dabei war, das Türschloss zweimal zuzusperren. Dann saß die kleine Familie bis kurz vor Mitternacht steif in ihrer gemütlichen Küche um den schön gedeckten Silvestertisch, ehe die erzwungene Idylle zu kippen drohte. Der Vater hatte schon reichlich Bier getrunken und suchte einen Grund für Streit. Doch Mutter und Tochter versuchten krampfhaft das eigentlich Unabwendbare abzuwenden und durch Zufall gelang es ihnen diesmal auch. "Zehn, neun, acht, sieben... null! Frohes, neues Jahr...", sie stießen klirrend mit den Sektgläsern an, unterließen aber die Scharade sich in die Arme zu fallen. "Ich muss es tun, ich muss!", murmelte Hannelore und begann die zarte Nagelhaut an ihrem Daumen mit den Zähnen zu bearbeiten. "Jetzt gibt es kein Zurück mehr...", jetzt wollte sie nicht mehr davon ablassen. Jetzt nicht mehr. Sie stand mit einem hastigen Ruck auf, schob den Stuhl geräuschvoll von sich und fragte ihre Eltern: "Wer will Gulasch?", doch die Antwort blieb aus. Nur das Böllern des tobenden Feuerwerks war zu hören. Trotzdem ging Hannelore langsam und stockend auf den Kochtopf zu. Er wirkte auf einmal so riesig und sie kam sich so klein und unbedeutend vor. Ihr Bewusstsein glich einem perfiden Zwischenzustand, jemand Fremdes hatte die Regie übernommen, lenkte sie. Sie wurde ferngesteuert und war ohne Gefühlsregung. Hannelore dachte nichts, sie war aus ihrem Körper herausgetreten und konnte sich für einen Moment von Außerhalb beobachten. Dann holte sie der Kochtopf in eine Scheinwirklichkeit zurück und ihre Mimik nahm panische Züge an. Auf dem Topf war plötzlich ein weißer Totenkopf zu sehen, darunter zwei sich überkreuzende Oberschenkelknochen. Das Zeichen für Gift.

"Vorsicht giftig!", schuldbewusst drehte Hannelore ihren Kopf, blickte in Richtung der Eltern und suchte nach Anzeichen des Begreifens. Doch sie konnte nichts entdecken. Nichts deutete auf ein Erkennen der bittersüßen Wahrheit hin. Sie wischte sich über die schweißnasse Stirn und rieb sich die Augen. Der Kochtopf war wieder nur ein schlichter Topf mit Bohnengulasch. Mit weichen Knien stand Hannelore jetzt davor, erwärmte das traditionelle Silvestergericht aufs Neue, spürte die Hitze, die von ihm ausging und genoss sie ein wenig. Mit rechter Hand griff sie zittrig zum Schöpflöffel und parallel dazu auch zum ersten Teller. Ohne ein weiteres Zögern befüllte sie das abgeschlagene Porzellan und dann den zweiten Teller. "Guten Appetit!", drapierte Hannelore ohne auszuschütten das Bohnengulasch auf den Tisch und setzte sich danach wieder auf den Stuhl, verschränkte abwartend die Hände in den Schoß. Seltsamerweise war sie nun ganz ruhig. Selbst ihr Puls war nicht mehr in schwindelerregender Höhe, hatte sich beruhigt. Ihre Eltern begannen monoton und wortlos zu essen. Das Klappern der Löffeln war schön und gleichzeitig nervenaufreibend. Sie beobachtete genau, folgte ihren Bewegungen zum Mund. Es kam ihr so surreal, unwirklich und trotzdem richtig vor. Plötzlich bemängelte man den eigenartigen, bittersüßen Geschmack. Dennoch aß das Ehepaar weiter und zwar ohne zu fragen, warum Hannelore ihnen nur zusah. Sie hätte sowieso keine andere Antwort als die Wahrheit parat gehabt. "Mir schmeckt Frostschutzmittel nicht!", und sie mochte auch nicht das später eintretende Erbrechen, das Versagen der Nierenfunktion und der Atmung. Dann hatten sie die Teller endlich fast leer gegessen. Sie scharrten den letzten, kümmerlichen Rest des Bohnengulasch auf die Löffel und lehnten sich gesättigt zurück. "Papa, weißt du noch, dass du mich jede Nacht in meinem Zimmer besucht hast?" Hannelore starrte den Vater mit leerem Gesichtsausdruck an und trotzdem konnte man gut darin lesen. "Und du... du hast alles gewusst!", flüsterte sie zur Mutter und sprach tonlos weiter: "Ihr habt mein Leben zerstört!" Ihre Eltern zeigten sich überrascht, blieben stumm. Sie selbst wollte weinen, konnte aber nicht. Tränen waren genug vergossen worden, Hannelore hatte keine mehr übrig. Dann steuerte sie wieder den Kochtopf an. Er war nur noch bis zur Hälfte gefüllt. Abermals nahm etwas Fremdes von ihr Besitz, ließ sie aus sich heraustreten, nicht denken. Hannelore griff nach einem weiteren Teller aus einem Küchenregal, befüllte ihn mit seinem giftigen Versprechen und begann noch im Stehen zu essen. "Aber lasst uns lieber weiter darüber schweigen...", grinste sie mit vom Bohnengulasch verschmiertem, vollem Mund. "Gemeinsam schweigen... für immer!"
Zuletzt geändert von Resi am Sa 30. Jul 2011, 14:51, insgesamt 1-mal geändert.


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