Eine alte Frau erzählt (2005)

Geschichten, Gedichte, Forenrollenspiel
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Resi
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Beitragvon Resi » Mo 25. Jul 2011, 20:45

Das Alltägliche:

Die Greisin beobachtet einen Enkel wie er die Ofentür aufklappt und nickt zufrieden. Oma Gertrud hat den Kindern schon früh und mit streng erhobenem Zeigefinger beigebracht - was sonst gar nicht ihre Art ist - die Urgewalt des Feuers, seinen Hunger und wildes Eigenleben zu respektieren und sich dementsprechend zu verhalten. Belustigt sieht sie den Bemühungen zu, wie der Junge den Ziegel auf die verrußte Schaufel balanciert und den Ziegelstein unbeholfen in Richtung geöffnete Ofentür schiebt. Dann schließt er mit einem lauten Knall die Klappe. Sobald der Enkel wieder auf seinen Platz sitzt und Oma Gertrud ihren Dank ausgesprochen hat, erzählt sie die Geschichte weiter:

Resi schlief äußerst unruhig. Das Traumgeschehen ließ ihren Körper von einer Seite zur anderen wälzen, sorgte dafür, dass ihre Arme manchmal in die Höhe schnellten, verursachte mehrmaliges Aufschluchzen, war für die unzusammenhängenden Wortfetzen verantwortlich. Das Mädchen folgte einem Drehbuch, ihrem Drehbuch. Jeder von uns ist im Besitz eines solchen Buches und sobald man in den Schlaf gleitet, wird es umgeschrieben oder gänzlich neu verfasst. Diese Aufgabe erledigt man selbst, man ist der Schriftsteller, übernimmt auch, damit die Uraufführung stattfindet, damit es zur Premiere kommen kann, die Regie und verpflichtet sich als Hauptdarsteller. Das Endprodukt ist dann ein Schauspiel der Superlative, eine Bilderabfolge der Gefühle, der Ängste, der Hoffnungen und Wünsche, der Erlebnisse. Die gesamte Inszenierung ist ein Wunderwerk der Evolution und hat den Sinn unsere geistige Gesundheit zu erhalten oder das Gleichgewicht, falls verloren, wieder herzustellen. Genau das ist auch der Grund, warum der Schlaf des kleinen Mädchens so unruhig und ausdrucksvoll war. Die Vorkommnisse, die kürzlich stattgefundenen Ereignisse, hatten tiefe Spuren in ihrer Kinderseele hinterlassen. Das Erlebte hatte sich in ihre Psyche förmlich hinein gebrannt und nun musste versucht werden, diese Brandnarben irgendwie zu integrieren, sie als Teil ihrer Selbst anzuerkennen. Denn die Stigmatisierung, die seelische Verbrennung hatte die empfindliche Balance gekippt, die Waagschale, das Maß des Erträglichen war weit in eine gefährliche Richtung ausgeschlagen und jetzt begann die schwierige Arbeit. Das Gleichgewicht, eines, das sowieso schon immer mehr Schein als Sein gewesen war, sollte seinen Ausgangspunkt wieder einnehmen. Das Träumen, ein genialer Mechanismus der Natur, diente diesem Zweck. Die psychische Wundheilung wurde vorangetrieben, die Heilung begann.

Mit einem lauten Schrei erwachte Resi aus diesem Verarbeitungsprozess. Schlaftrunken erhob sie sich sogleich, schüttelte den Albtraum ab, ebenso das Heu, welches ihr als Decke gedient hatte. Das Morgenrot war schon zu sehen. Die Vögel zwitscherten und flogen aufgeregt umher, wollten keine Zeit verlieren, waren begierig darauf bedacht ihr Tagewerk in Angriff zu nehmen und auch sie musste sich sputen. Die Arbeit verrichtete sich schließlich nicht von selbst. Schnell ergriff sie die zwei, in einer Ecke stehenden, verbeulten Kübel und machte sich daran, die Kuh und die Ziegen zu melken. Es waren Routinehandgriffe, sie musste sich auf ihr Tun nicht konzentrieren, deshalb konnte sie noch einmal über ihren Plan nachdenken. Resi wog Für und Wider ab, erstellte im Geiste eine Plus- und Minusrechnung und befand letztendlich, dass sie sich für den richtigen Weg entschieden hatte. Auch wenn ihr Vorhaben alles andere als ein Spaziergang werden würde. Lächelnd, es war ein verzerrtes, falsches Lächeln, es wollte so gar nicht in das Kindergesicht passen, stellte sie die mittlerweile mit Milch gefüllten Eimer nach draußen. Als sie kurz darauf die Mistgabel zur Hand nahm, begann Resi eine frei erfundene Melodie zu summen. Die Klänge waren einfach nur schrecklich, die Intonation war fürchterlich, grauenhaft, als versuche sich ein Geisteskranker am Komponieren. Doch diese Töne waren nur Produkt, wurden nur von einer Neunjährigen erzeugt. Voller Elan, einer Tatkraft die leicht beängstigend war, schwang sie die Gabel. Dieses gesamte Verhalten war Ausdruck einer grimmigen Entschlossenheit. Sie hatte ein Ziel vor Augen, hatte einen Plan, einen der auf seine Erfüllung pochte. Das Mädchen beschloss, zwang sich selbst, diese Inbrunst, diesen Abklatsch von Zuversicht den sie empfand, zu genießen. Sie, der Nichtsnutz, hatte ihn sich ersonnen, hatte den Plan selbst ausgeheckt. Wenn sie auch sonst zu nichts zu gebrauchen war, außer vielleicht als Fußabtreter, diese Genugtuung wollte sie sich nicht nehmen lassen. Sie wollte diese Gefühle auskosten und tat das auch, mit einer Verbissenheit, die ihresgleichen suchte. Resi lockerte, durchlüftete das Heu und beseitigte anschließend den verstreuten Kot, häufte ihn in eine Ecke, damit er später zu Felde getragen, als Dünger dienen konnte. Anschließend fütterte sie die Tiere und als sie beim Eier einsammeln war, wurde sie unsanft auf ein Grundbedürfnis hingewiesen und verstummte, beendete die gänsehautverursachende Komposition. Sie hatte Hunger, ihr Magen knurrte lautstark, protestierte anklagend und machte so auf sich aufmerksam, befehligte sie seiner Forderung nach Nahrung nachzukommen. Um dieses unangenehme Gefühl, das krampfartige Zusammenziehen ihrer Verdauungsorgane zu beenden, entnahm sie dem Korb, dem schmutziges Behältnis, welcher nur zum transportieren der Eier diente, eines der Eier und schlug es schnell und routiniert auf. Dann schlürfte das kleine Mädchen den Inhalt leer, leckte mit ihrer Zunge über die kalziumreiche Innenseite der Schale, schleckte es blitzblank aus. Gesättigt trat sie dann vor die Stalltür, die Morgenkühle empfang sie. Resi verschob daraufhin die zwei metallenen Milchkübel, stellte sich mittig dazwischen und hob beide an ihrem Henkel hoch. Etwas gebeugt durch die Last, schritt sie nun langsam, um nichts von dem Inhalt zu verschütten, auf das Bauernhaus zu. Die dünnen, halbkreisförmig gebogenen Henkel schnitten dabei schmerzhaft in ihre Hände, gaben so Zeugnis über ihr Tagewerk ab. Doch sie bemerkte diesen Umstand gar nicht, sie lauschte dem Wind, horchte auf sein eindringliches Säuseln. Resi verstand die lieblich, leicht wehleidig, gesprochenen Worte, diese Windsprache: "Der Zeitpunkt ist nah!" Das Mädchen blieb kurz stehen, gab nickend eine stumme Antwort und begann dann aufs Neue, ihre eigentümliche Melodie zu summen.

Die alte Frau deutet auf den Ofen. Dabei kommt die Erzählung zum Erliegen. Das gleiche Kind von vorhin steht nach diesem Wink abermals auf und entfernt mit Hilfe der Schaufel den Ziegel aus dem heißen Ofen. Der Enkel steigt kurz darauf, beladen mit seiner glühend heißen Fracht, die Treppe hoch und beendet, indem er den Stein unter die Bettdecke schiebt, seinen Auftrag.

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Beitragvon Resi » Mo 25. Jul 2011, 20:46

KAPITEL IV

Der Vagabund:

Als wieder Ruhe einkehrt ist, betrachtet Oma Gertrud ihre Enkel. Die fünf Jungs haben allesamt blondes Haar, genau wie auch sie früher. Die alte Frau streicht sich durch das eigene, dünn gewordene Haar, welches einen grauen Farbton angenommen hat und dessen Glanz auch schon längst dahin ist. Die Sommersprossen der Enkelkinder blitzen ihr im sanften Schein des Kaminfeuers frech entgegen. Auch Oma Gertrud hat solche Flecken, sie zieren ihren Nasenrücken. Jedoch kommen sie in ihrem faltigen, von Altersflecken übersäten Gesicht nicht mehr zur Geltung. Das war in ihrer Jugend anders, ganz anders. Damals spielte sie diesen Reiz des scheinbaren Makels bewusst aus und diese kokette Herausforderung brachte manchen Mann schier zur Verzweiflung. Oma Gertrud schüttelt sanft den Kopf, sie ist schon lange keine Augenweide mehr. Außerdem schwelgt sie nicht allzu gern in Erinnerungen. Die Zukunft ist viel interessanter und diese Zukunft sitzt hier, wartet gespannt auf die Weitererzählung der Geschichte. Die Greisin verscheucht die Müdigkeit, indem sie sich über die Augen reibt und spricht dann leise weiter:

Resi erledigte auch an den folgenden Tagen die anstehenden Arbeiten mit einer Zerstreutheit, einer Abwesenheit, die nicht ihr übliches Verhalten widerspiegelte. Es waren Verpflichtungen, die für ein solch kleines Mädchen eigentlich eine Überforderung darstellten, die dem Kind noch zusätzlich das Vorrecht auf eine erfüllende Kindheit raubten, jedoch übliche Praxis war. Denn man konnte in jener Umgebung darauf keine Rücksicht nehmen, selbst wenn man das gewollt hätte. Das Leben auf einem Bauernhof, die Arbeitsintensität, die das Betreiben einer solchen Wirtschaft vehement einfordert, ließ nichts anderes zu. Resi erfüllte sie immer gewissenhaft, fast neurotisch, denn diese Pflichten bedeuteten auch ein Stück Normalität, so widersprüchlich sich das auch anhören mag. Arbeiten war gleichzusetzen mit Routine, Routinehandlungen waren Rituale und Rituale bedeuteten Verlässlichkeit, suggerierten ihr ein Gefühl der Sicherheit. Außerdem waren ihr und die daraus resultierten Folgen der Schufterei mehr als willkommen. Denn sie bewiesen ihr, dass sie etwas geleistet hatte. Auch wenn das kleine Mädchen ihre Leistung eher gering einschätzte, brauchte sie diese Selbstbestätigung wie der Fisch das Wasser. Ganz selten, sobald das Arbeitspensum bewältigt war, überkam sie das Gefühl: "Ich bin doch nicht vollends nutzlos!" Dieses Gefühl, verschaffte ihr eine subtile Befriedigung. Zwar eine, die aus Verzweiflung geboren und trotzdem so wichtig ist, überlebenswichtig. Nichtsdestotrotz gab ihr das Kraft, war der Hoffnungsschimmer an ihrem Horizont, vergleichbar mit der Bedeutung, die ein Leuchtturm für den Seemann hat. Denn auch Resi war Spielball einer Gewalt, eine auf die sie keinerlei Einfluss ausüben konnte, da diese meist sehr willkürlich über sie hereinbrach. Das Mädchen war ihr schutzlos ausgeliefert und sie musste sich mit dieser Hilflosigkeit arrangieren und tat dies auch, indem sie sich an solche Banalitäten klammerte.

Die Zeit verstrich, der Sommer lag nun in seinen letzten Zügen und sein verzweifeltes Aufbäumen, die Hitze des Altweibersommers, war nur noch eine Farce, eine Posse, die nicht darüber hinweg täuschen konnte, dass der Jahreswechsel bevor stand. Der Herbst kündete sich bereits an, das Blattgrün der Pflanzen begann sich allmählich zu wandeln. Schon bald würde die Natur dem Betrachter ihre unvergleichliche Farbenpracht und Farbenvielfalt unter Beweis stellen. Die Tierwelt sammelte schon fleißig Vorräte für die kommende Härte des Winters und genau dasselbe Verhalten konnte auch bei den Bauersleuten beobachtet werden. Nun war es soweit, der ersehnte und zugleich gefürchtete Tag war gekommen. Wollte sie ihren Plan, jetzt da es ans Eingemachte ging, wirklich in die Tat umsetzen? Konnte sie die Konsequenzen abschätzen? Ja, sie wollte ihre grimmig ersonnene Vision Wirklichkeit werden lassen, trotz ihrer Angst, trotz der Ungewissheit. Natürlich konnte sie die mögliche Gefährlichkeit die ihr Vorhaben in sich barg nicht richtig einschätzen. Das war vielleicht ein Segen, vielleicht läutete aber genau diese jugendliche Naivität und Torheit ihren Untergang ein. Resi sehnte den Einbruch der Nacht herbei und wünschte sich zugleich, es möge nie dunkel werden. Ambivalent war ihr empfinden und dementsprechend nervös und unruhig verhielt sie sich. Am liebsten würde sie ihr Vorhaben ad acta legen. Der Hauptgrund war wohl Feigheit, jedoch nicht nur. Sie mochte nämlich den Vagabunden, den ihr Ziehvater für die Erntezeit eingestellt hatte. Er war schlaksig, ungepflegt, genau wie sie, verlor nie viel Worte, schwieg die meiste Zeit. Doch wenn er sprach, hinterließ das Gesagte Eindruck, zumindest bei dem kleinen Mädchen. Seit seinem Dasein, immer wenn die Abendstille über den Hof hereingebrochen war und der Mann draußen, auf seinem, vom Wind und Wetter nur notdürftig geschütztem Nachtlager ruhte, gesellte sich Resi heimlich zu ihm. Meistens überreichte er ihr dann ein Stück Brot und beide betrachteten kauend und schmatzend, den Sternenhimmel. Resi fühlte sich in seiner Gegenwart wohl, genoss das stumme Beisammensein, konnte sich entspannen. Denn sie musste ihn nicht beobachten, brauchte seine Reaktionen nicht interpretieren, war nicht ängstlich darauf bedacht, nur ja keinen Unmut auf sich zu ziehen. Der Schlaksige hatte das nötige Gespür, wusste wie er mit Resi umzugehen hatte. Er vermied, sobald sie in seiner Nähe war, alle hastigen Bewegungen, gab ihr somit keinen Anlass sich zu erschrecken. Wahrscheinlich war er ebenso einsam wie sie und sehnte sich nach Gesellschaft. Egal welchen Grund es gab, egal was ausschlaggebend war, diese Zweckgemeinschaft trug von vornherein einen Ablaufstempel.

Als das Tageslicht schon lange verblasst war, die Nachtschwärze das Zepter an sich gerissen hatte und Resi sich sicher war, dass alle schliefen, schlich sie sich aus den Stall um die erste Etappe ihres Vorhaben in Angriff zu nehmen. Vorsichtig, nahezu lautlos, drang sie in das Hauptgebäude ein. Dann blieb sie, ungefähr in der Mitte des schäbigen Raums stehen, horchte intensiv auf außergewöhnliche Geräusche und ließ die Pupillen sich an die spezielle Dunkelheit der Stube anpassen, um sich orientierten zu können. Nach diesem kurzen Moment, für das Mädchen war es eine nervliche Zerreißprobe, bewegte sie sich zielstrebig und nur flach atmend, auf einen Schrank zu. Mit verbissenem Gesichtausdruck öffnete sie die unabgeschlossene Tür langsam und verursachte dennoch oder vermutlich genau deswegen, ein lautes, scheinbar nie enden wollendes Quietschen. Reflexartig und komplett widersinnig, hielt sie sich die Ohren zu, als könnte sie so das Befürchtete vermeiden, als könnte diese Geste die Bewohner vorm Erwachen abhalten. Etwas geduckt und regungslos wartete sie ab, einer Panik nahe. Als aber nach einer qualvollen Weile noch immer keine aufgeregten Schritte zu hören waren, wagte es Resi, sich wieder zu bewegen. Sie griff zielsicher, mit wild klopfendem Herzen, aber ohne weitere Verzögerung, nach dem kleinen, unscheinbar aussehenden Metallkästchen, umklammerte es fest und hielt es in beiden Händen, Dann verließ sie das Gebäude. Sobald sie die frische Nachtluft wieder einatmete, fühlte das kleine Mädchen eine kaum zu beschreibende Erleichterung. Den ersten Teil ihres Plans hatte sie erfolgreich hinter sich gebracht. Die Aufregung ließ sie nun erzittern und das Beben übertrug sich sogleich auf das Kästchen. Ein sanftes Scheppern war zu hören. Abgelenkt von dem unbeschreiblichen Glücksgefühl, den ihr der Teilsieg bescherte, bemerkte sie nicht die langsam näher kommende Gestalt. Erst als der Vagabund sie fast berühren konnte, nahm sie ihn wahr. Schuldbewusst und mit verzerrten Gesichtszügen, wich sie einen Schritt vor ihm zurück und schüttelte dabei heftig den Kopf, drückte die Fingerkuppen krampfhaft auf die Oberfläche des schnörkellosen Kästchen: "Nein! Es gehört mir, du bekommst dieses Kästchen nicht!"

Die Greisin beendet an dieser Stelle die Geschichte. Nach einer Weile des Schweigens, die Kinder sitzen in dieser Zeit völlig ruhig auf ihren Plätzen, sinkt Oma Gertruds Kopf nach unten und die Augen schließen sich. Die Alte Frau ist eingenickt. Solch ein Wegtriften ist das Privileg alter Menschen und ihre Enkel akzeptieren diese Marotte, denn sie wissen, dass sie schon nach kurzer Zeit wieder erwachen wird.

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Beitragvon Resi » Mo 25. Jul 2011, 20:47

Der Diebstahl:

Oma Gertrud erwacht aus ihrem Kurzschlaf. Die Greisin ist desorientiert, weiß nicht wo sie sich befindet. Dann kommt sie wieder ganz zu sich, die schlafbedingte Verwirrung verschwindet und weicht von ihr. Die alte Frau sitzt noch immer auf ihrem Schaukelstuhl, die selbst gehäkelte Decke um den zerbrechlich wirkenden Körper geschlungen und ihre Enkelkinder warten auf das Weitererzählen der Geschichte. Oma Gertrud wischt sich, etwas peinlich berührt, über das feuchte Kinn. Kurz nach dem Anknüpfungsfaden suchend, beginnt sie mit rauer Stimme wieder zu sprechen:

"Du bekommst dieses Gold nicht!" Resi sah den Schlaksigen an, trotzig und zugleich bittend. Sie konnte zwar nur das Weiß seiner Augen gut erkennen, der Rest dieser ungepflegten Erscheinung verschmolz im Dunklen der Nachtschwärze, jedoch schätzte das Mädchen seine Gesinnung sofort richtig ein, erfühlte sie instinktiv. "Lass mich gehen, bitte!", flüsterte sie leise, darauf bedacht, die Bauersleute nicht aufzuwecken. Nur das sanfte, kaum wahrnehmbare Vibrieren in ihrer Stimme, verriet Resis Gemütszustand. Wortlos schüttelte der Vagabund den Kopf. Goldgier hatte von ihm Besitz ergriffen und nur dieses kleine Mädchen stand zwischen dem Begehrtem. Es war kein Hindernis, keines von Bedeutung. Der Schlaksige überwand schnell und zielstrebig die geringe Distanz, fasste sie grob und rücksichtslos an einer Schulter, hielt sie fest und verhinderte so ein Entkommen. Dann beugte er sich leicht zu ihr hinunter und riss Resi das Kästchen aus der Hand. Stocksteif, ohne den Versuch einer Gegenwehr, stand das Mädchen da, stand während des gesamten Vorgangs kerzengerade. Es war eine Erstarrung wie man sie aus dem Tierreich kennt. Gibt es keinen Fluchtweg, so steht man still bis die Gefahr gebannt ist. Sie spürte dabei weder die Umklammerung ihrer Schulter, noch das Brechen der zwei Fingernägel als er ihr das Gold entwendete und schon gar nicht seinen heißen Atem, das stoßweise Hecheln. Betäubt waren ihre Sinne, aber nicht nur in physischer Hinsicht. Der Schmerz der Enttäuschung und des Verrats löste eine Art leichten, psychischen Schockzustand aus. Sie konnte nicht begreifen, nicht verstehen. Resi hatte ihn gemocht, diesen Vagabunden und er hinterging sie, zertrampelte durch seine Tat den zarten Keim des gefassten Vertrauens. Sie war noch zu jung um die Zusammenhänge erkennen zu können. Armut und Verzweiflung ließen keinen Platz für Selbstlosigkeit, machten eben opportun. Der Schlaksige schüttelte die Schatulle kurz, lauschte dabei dem Klang den die Goldmünzen verursachten und grinste zufrieden. Dann strich er ihr mit seinem rauen Daumen fast zärtlich über die Wange. Es sollte wohl eine entschuldigende Geste darstellen. Kurz darauf entfernte er sich für immer aus ihrem Leben, jedoch nicht ohne ihr das fragwürdige Geschenk des Misstrauens gegenüber Freundlichkeit hinterlassen zu haben.

Resi blieb noch eine Weile völlig regungslos stehen. Dann hob sie ihren Kopf an, fixierte den Nachthimmel und betrachtete scheinbar entzückt die hellen Punkte dort oben. Viele davon waren wahrscheinlich nur noch Lichttäuschungen, waren nicht mehr existent und haben schon lange ihre Leuchtkraft eingebüßt. Fast lautlos flossen die Tränen und tropften entweder auf ihre schmächtige, dürre Kinderbrust oder rannen langsam den Hals hinab. Nach einiger Zeit, ungezählte Minuten, wendete sie ihren Blick von der Himmelspracht ab. Nun ließ sie ihr Kinn es den Tränen gleichtun. In sich zusammengesackt, machte sie erst einen Schritt, dann einen weiteren und letztendlich unzählige. Sie schaute während des Gehens nicht geradeaus, sondern zu Boden. Warum sollte sie auch nach vorne blicken? Vor ihr lag eine ungewisse Zukunft: Ohne Gold, ohne so etwas Ähnliches wie ein Zuhause. Und trotzdem ging sie, ihre Füße schienen sich von alleine zu bewegen. Resi verließ den Bauernhof für immer und sah dabei kein einziges Mal nach rückwärts aber auch nicht vorwärts.

Gerade als die alte Frau verstummt und ihr Redefluss somit zum Erliegen kommt, öffnet sich die Stubentür. Oma Gertruds Tochter, eine stämmige Frau mittleren Alters, steht im Türrahmen und erinnert im Befehlston an die Uhrzeit: "Es ist schon viel zu spät! Gebt Eurer Oma einen Gutenachtkuss und dann ab ins Bett mit euch!" Die Kinder gehorchen, verabschieden sich von der Greisin, lassen sich aber ein Versprechen geben. Als die alte Frau wieder alleine ist und nur noch das Prasseln des Kaminfeuers zu hören ist, flüstert die alte Frau: "Morgen erzähle ich Euch die Geschichte weiter!"

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Beitragvon Resi » Mo 25. Jul 2011, 20:49

Oma Gertrud

Die alte Frau sitzt noch eine ganze Weile in ihrem Schaukelstuhl, ehe sie die Seitenarme des Stuhls zu streicheln beginnt, als wäre der Stuhl ein lebendiges, atmendes Wesen. Es ist ein Hochzeitsgeschenk ihres Mannes, erbaut durch seine grobschlächtigen Hände. Die Greisin schließt die Augen. Sie denkt an diese Hände, liebkost sie in Gedanken. Jede Schwiele, jede Narbe war und ist ihr noch immer lieb und teuer. Seine Hände haben einige Frauen in die Irre geführt, aber Oma Gertrud wusste sofort Bescheid, als er sie zum ersten Mal berühren durfte. Denn geschickt konnten sie sein und auch sehr zärtlich. Bei dieser Erinnerung sehnt sich die alte Frau wieder nach seinen Berührungen. Wie gern würde sie ihn noch einmal fühlen und ihn ermahnen wollen: "Nicht vor den Kindern!"

Seufzend und etwas selbstmitleidig, erhebt sie sich aus dem Schaukelstuhl und blickt ihn danach lange an. Es ist ein einfaches Modell, ohne dem Auge schmeichelnde Details. Einfach, aber deshalb nicht geringer wertzuschätzen, genau wie es ihr Ehemann auch gewesen war. Noch immer in Nostalgie schwelgend, dreht sich Oma Gertrud um, versperrt sich so die Sicht auf das Symbol ihrer Liebe und das Mahnmahl ihrer Einsamkeit. Plötzlich hört sie ein Lachen. Für einen Moment lokalisiert sie das Geräusch in der Ferne. Dann muss sie erstaunt feststellen, dass es nur eine Einbildung ist. Denn dieses etwas ungläubige und jugendliche, herablassende Lachen, hat sie vor langer Zeit selbst von sich gegeben. Es ist ihre Antwort auf ein Gesagtes gewesen. Eine Greisin, genau wie sie jetzt selbst eine ist, hat ihr im traurigen Tonfall gestanden, dass das Alter einsam macht. Aber Gertrud hat dem damals keinen Glauben geschenkt. Im jungendlichem Überschwang fehlt nunmal die Weitsicht und ist der Blick für das Offensichtliche getrübt. Doch die Zeit, der Gradmesser für den Lauf der Dinge, hat sie eines Besseren belehrt. Zuerst ist es schleichend passiert. Fast alle Kinder, bis auf das Jüngste, haben das Haus verlassen und sind ihre eigenen Wege gegangen, haben eine Familie gegründet. Dann musste sie, in immer kürzer werdenden Abständen, Freunde und Bekannte betrauern und zum Schluss hat ihr geliebter Mann das Zeitliche gesegnet. Oma Gertrud bekreuzigt sich schnell als sie an dessen Ableben denkt. Sie ist sehr gläubig, so wie es ihre Ahnen schon immer gewesen waren und wie es die Tradition verlangt. Doch manchmal grollt sie dem Herrn, nimmt es ihm übel, dass er ihn so schrecklich leiden hat lassen, bevor er ihn endgültig zu sich genommen und ihn erlöst hat. Doch überwiegend ist sie dem Allmächtigen dankbar. Der Grund ist so schlicht wie weittragend: Ihre Ehe ist keine rasante Talfahrt in die Bitterkeit gewesen. Sie endete nicht in einem Fiasko voller geweinter und ungeweinter Tränen. Oma Gertrud liebte und liebt ihren Ehemann noch immer.

So schnell Oma Gertruds alten Beine sie tragen können, steuert sie auf die Treppen zu. An deren Fuß angekommen, sinniert sie noch einen kurzen Augenblick über ihr langes, ereignisreiches Leben. Im Großen und Ganzen ist sie mit ihrem Leben im Reinen. Lästerliche Gedanken kommen nur in schwachen Momenten auf. Ächzend und ungeschmeidig macht sie sich daran, die erste der elf Treppen in Angriff zu nehmen, es gleicht einem Kraftakt. Sobald diese erste Hürde geschafft ist, ruht sie sich einen Moment aus und verwünscht dabei im Stillen ihre Sturheit. Der Stolz verbietet es ihr, sich ein Nachtlager im Erdgeschoß einzurichten, lieber quält sie sich jeden Abend aufs Neue. Nach dieser Pause steigt sie weiter die scheinbare Unüberwindlichkeit der Treppe hoch. Dabei etwas zynischen Humor beweisend, sich über ihr eigenes Tempo lustig machend, denkt sie an den angewärmten Ziegel und wie dieser, wenn nicht schon erkaltet, es sicher nach den weiteren zehn Stufen sein wird. So erklimmt sie, Stufe um Stufe, bis sie endlich das obere Stockwerk erreicht hat. In ihrem Schlafgemach angekommen, entkleidet sich die Greisin, wäscht den vom Alter gezeichneten Körper mit dem bereitgestellten, etwas trüben Wasser in der abgeschlagenen, lädierten Schüssel. Während sie diese Routinehandlungen ausführt, danach ihr langes, oftmals geflicktes Nachtkleid anzieht, schweifen ihre Gedanken abermals zu dem kleinen Mädchen. Als sie abschließend zu Bett geht, sich die schwere Daunendecke zurecht legt und das Kissen aufschüttelt, spricht sie leise zu ihr, als wäre Resi anwesend: "Das hast du gut gemacht, ich bin stolz auf dich. Gute Nacht!" Dann schläft Oma Gertrud ein, ungeachtet der Tatsache, dass sie soeben zu einer Figur aus einer Geschichte gesprochen hat aber auch das ist ein Symptom des Alters, die Wunderlichkeit.

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Beitragvon Resi » Mo 25. Jul 2011, 20:51

KAPITEL V

Die Flucht

Oma Gertrud hat in dieser Nacht nur oberflächlich geschlafen, unterbrochen durch häufige Wachperioden. Zur frühen Morgenstunde beendet sie das Herumwälzen endgültig und somit auch die Nachtruhe. Nachdem sie all ihre ans Herz gewachsene, morgendliche Routine zelebriert hat, brüht sie sich Kaffee auf. Und zwar ebenfalls so, wie sie dieses Luxusgetränk schon seit Jahren zubereitet: Mit einer Prise Salz, damit das Aroma besser zur Geltung kommt und natürlich muss er richtig stark sein. Der erste Schluck, einer ihrer wenigen Höhepunkte am Tag, genießt sie fast schmatzend. Danach macht sich die alte Frau daran ihrer Tochter bei den anfallenden Arbeiten zu helfen, indem sie die Kinder, die noch nicht in die Schule gehen dürfen, eine Weile hütet. Diesen Enkeln erzählt sie dann, nachdem sie es sich wieder in dem Schaukelstuhl bequem gemacht hat und die Kleinen sich in einem engen Halbbogen um Oma Gertrud zu Boden gesetzt haben, die Geschichte weiter:

Resi verließ in schnellen Schritten den Bauernhof und ohne es zu wissen, läutete das Mädchen durch ihr Weglaufen des Tyrannen Ableben ein. Ihr Stiefvater prügelte, als ihr verschwinden bemerkt wurde, seine Frau so heftig, dass diese kurz darauf ihren Verletzungen erlag. Das traurige, jedoch absehbare Ende einer Ehe und einer Lebensweise, die so gar nichts mit der Dekadenz der Obrigkeit gemein und doch auf einen Nenner gebracht werden konnte: Entartung. Wenngleich Gewalt in diesen Zeiten der Normalität entsprach und Akzeptanz hervorrief, wenn nicht gar Beifallsbekundungen. Diese Duldung und das Gefühl im Recht zu sein, dem Irrglauben anhaftend, dass es eines Mannes Pflicht war und Vorrecht, überwand sogar den breiten Graben der Klassengesellschaft. Anders als der Neid hervorrufende und ausufernde Stil des Adels. Deshalb blieben die Motive des Hausherren im Dunkeln, ein Mysterium, das zu Spekulationen verführte. Vielleicht regte sich sein verkümmertes Gewissen, vielleicht gab er im betrunkenen Zustand einen unbedachten Impuls nach oder aber er beging gar keinen Selbstmord. Warum auch immer - und wer auch immer - einen Strick nahm, diesen an den dicken Hauptbalken im Stall festband und - was oder wer - dafür sorgte, dass er dort tagelang hing, es weinte ihm niemand eine Träne nach.

Nach einiger Zeit, der Bauernhof lag schon eine ganze Weile hinter ihr, sah sich Resi um. Das Mädchen bildete sich ein, jemand würde sie verfolgen. Angestrengt spähte sie, versuchte Umrisse einer Gestalt in den tiefen Schatten jener Nacht auszumachen. Doch ihre Augen ließen sie vermeintlich im Stich. Sie konnte nichts dergleichen erkennen. Als ein brechender Ast, sein Knacken die Stille durchbrach, ebenso wie das darauf folgende Gewusel eines Tiers, beschleunigte sie ihr Tempo, verfiel in den Laufschritt. Dann, abermals war ein verdächtiger Laut zu hören, lief Resi immer schneller werdend, lief so schnell sie konnte, flüchtete vor dem vermeintlichen Häscher. Eingebildet oder nicht, spielte in diesem Moment keine Rolle. "Lauf, lauf…", hörte sie eine Stimme tief in ihrem Inneren. Immer drängender wurde diese, immer fordernder. Ihr peitschender Atem, das Gekeuche brachten diesen Befehl nicht zum Schweigen und auch nicht das seitliche Stechen, das zu Anfangs nur ein sanftes Flattern war und jetzt zur Prüfung wurde, sodass ein Weiterkommen fast unmöglich war. Mit Tränen in den Augen, Tränen deren Ursache nicht die Angst war, sondern dessen Schuld der Wind und ihrer Laufgeschwindigkeit war, passierte das Unvermeidliche: Sie stolperte. Das kleine Mädchen stolperte über einen Ast. "Vielleicht der gleiche Ast, den ich brechen hörte?", schoss es Resi völlig irrsinnigerweise durch den Kopf, bevor sie zu Boden fiel, bevor ihre Nase zu bluten begann, bevor…

Die Alte Frau wird unterbrochen, die Geschichte endet abrupt als ein lauter Ruf ihrer Tochter ertönt: "Ich brauche die Kinder!" Oma Gertrud nickt und richtet ihr Wort abermals an die Enkel: "Ihr habt eure Mutter gehört. Sobald ihr wieder da seid erzähle ich die Geschichte weiter, versprochen!" Dann lehnt sich die Greisin zurück und wartet auf deren Rückkehr.

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Beitragvon Resi » Mo 25. Jul 2011, 20:52

Der Sturz:

Oma Gertrud schläft langsam ein, während sie auf die Rückkehr ihrer Enkel wartet. Am Anfang ist ihr Schlaf noch unruhig, ihr Kopf bewegt sich hin und her, also wäre sie mit etwas ganz und gar nicht einverstanden. Doch nach einiger Zeit beruhigt sich das Gebaren der Greisin, die Gesichtszüge werden weich, fast teigig und ab und zu kann man sie sogar Lächeln sehen. Plötzlich kehren ihre Liebsten zurück. Zuerst werden die Kinderstimmen in ihren Traum eingebaut, werden Teil des Geschehens, doch dann holt sie die Wirklichkeit endgültig ein. Zu fordernd sind die Rufe: "Oma, Oma… aufwachen! Erzähl uns die Geschichte weiter… bitte!" Fast widerwillig und erbost öffnet die alte Frau ihre Augen. Das Erwachen ist immer ein Prozedere, welches sie nicht ausstehen kann. Jedoch genügt ein schlaftrunkener Blick auf ihre Enkel und schon ist sie wieder versöhnt. Sobald sie sich gefangen hat und sie wieder ganz im Hier und Jetzt verweilt, antwortet sie: "Eurer Wunsch ist mir Befehl!", nach einem kurzen Rutschen und Aufsetzen auf dem Stuhl, beginnt sie ohne Umschweife zu sprechen:

Resi stolperte über den Ast und fiel der Länge nach auf die Nase. Wäre sie abgebrühter, nicht so kindlich, könnte sie sicher darin ein Sinnbild, vielleicht auch ein Omen für ihren Fluchtversuch sehen. Doch das kleine Mädchen war nicht in der Lage Rückschlüsse zu ziehen und bitterer Spott war ihr fremd. Sie fühlte nur Schmerz, sowie das Blut, das sich zwischen ihren Fingern befand. Geschockt und gefangen in diesem Gefühlten, vergaß sie ganz, warum sie gelaufen war und warum sie hatte laufen müssen. Die Stimme, ihre eigene, war verstummt und zwar im Augenblick des Falls. Nun gab es kein Denken mehr und deshalb blieb sie einfach liegen. Resi verharrte lange still, nur ihr Einatmen war zu hören. Die Kälte und die klamme Feuchte, welche langsam in sie hineinkroch, die dabei war, ihren ausgemergelten Körper gefangen zu nehmen, nahm sie nicht wahr. Das Gegenteil war der Fall. Niemals zuvor empfand sie etwas Ähnliches. Es war herrlich weich, dieses Blätterbett. Nie wieder würde sie sich je wieder so geborgen und umarmt fühlen. Langsam ließ sie deshalb ihre Hand sinken. Die Nase war nicht mehr wichtig, nichts war mehr wichtig. Sie wollte nur noch schlafen. Resis Augenlieder schlossen sich allmählich. "Nur ein bisschen, ein klein bisschen…", murmelte sie dabei und schmiegte ihren Kopf in die Bunte des Herbstbodens.

Nun lag sie also da, das kleine Mädchen, dessen Mutter ein Mensch und deren Vater ein Elf war. Ihr Körper und ihr Geist zollte der Aufregung Tribut und nahm keinerlei Rücksicht, dass ihr Liegenbleiben den Erfrierungstod bedeuten konnte. Dieses Bedürfnis nach Erholung musste einfach gestillt werden, es duldete keinen Aufschub und wurde doch je unterbrochen, als ein empörtes Gekreische und kurz darauf Flügelschläge zu hören waren. Eine Eule und seine Beute kümmerten sich nicht um Resi, sie taten was ihre Natur ihnen gebot. Sie wurde dadurch unsanft geweckt, öffnete erschrocken die viel zu schweren, viel zu müden Augen und sah sich verwirrt um. "Was…wo bin ich?", fragte sie sich und wurde sogleich abgelenkt als sie die Wucht des Schmerzes wieder traf. Vorsichtig, einer Echse gleich, begann sie darauf zu züngeln und ertastete so, auf ungewöhnliche Weise den Schorf des angetrockneten Blutes auf ihrer Oberlippe. Abgelenkt von dieser Tätigkeit, rappelte sie sich wieder hoch, ließ den Kältekontakt abreißen und setzte ihren Weg ins Ungewisse fort.

Manchmal schrie sie auf, mal leise, dann wieder lauter. Immer wenn sich das dumpfe Pochen, der Ursprung war in ihrer Gesichtsmitte zu suchen, zu einem wütenden Inferno steigerte. Doch ansonsten war ihr Weiterkommen, bzw. das Vorwärtstaumeln seltsam emotionslos. Es glich einer ungelenken, seelenlosen Puppe, welche an Schnüren befestigt und stümperhaft gelenkt wurde. Sie hatte großen Durst, doch noch verdrängte sie diese Forderung nach Wasser, noch konnte sie dem Kitzeln im Gaumen widerstehen.

Oma Gertrud sieht zur Kanne, die mit vielen kleinen Rissen übersät ist und am Fensterbrett steht. "Seid ihr durstig?", fragt sie die Kinderschar und beendet somit die Erzählung. "Lasst uns etwas Milch trinken!", ihre Enkel verstehen den dezenten Wink und wissen, dass ihre Oma einer kleinen Pause bedarf.

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Beitragvon Resi » Mo 25. Jul 2011, 20:54

Der Durst:

Oma Gertrud und ihre Enkelkinder trinken lauwarme Milch. Die alte Frau grinst dabei breit, belustigt über die entstandenen Milchbärte und sie freut sich über die Begeisterungsfähigkeit der Kleinen. Schade, dass die meisten Erwachsenen irgendwann, im Laufe der Zeit, diese nette Eigenschaft abstreifen, fast wie ein zu enges Korsett. Ein großer Verlust den es zu bedauern gilt! Die alte Frau lässt das Grinsen langsam abklingen, trinkt ihre Tasse leer und geht dann nahtlos in die Erzählung über:

Resis Flucht hatte sie in einen Wald hinein getrieben. Dabei schlug sie sich durch dichte Fauna, kletterte einen steilen Hang hinab. Schon bald waren die nackten Füße des kleinen Mädchens blutig, die zarte Haut am Kindskörper von zahlreichen Schrammen übersäht. Das schmerzhafte Pochen ihrer Nase hatte sich zum Glück bald wieder beruhigt. Sie war wohl nicht gebrochen. "Durst!", wenn bloß dieses elementare Bedürfnis nicht gewesen wäre! Trotz saugen an bitteren Blättern, ungeachtet der saftigen Früchte, die sie vereinzelt fand, drängte ihre Mundhöhle nach der Benetzung mit Wasser. Ihre Zunge fühlte sich pelzig an und klebte unangenehm an der Oberwand ihres Gaumens. Immer verzweifelter, immer drängender wurde das Durstgefühl. Dieses stille und dennoch unignorierbare Verlangen nach Wasser, schwächte Resi, schwächte ihren Willen weiter zu gehen. Denn im Grunde genommen sind wir unter der hauchzarten Schicht, die sich Zivilisation nennt, alle nur Tiere. Die aufkommende Austrocknung, die bittere Erkenntnis, um wieviel schlimmer als alle Schläge, als alle Vernachlässigung, die Sehnsucht nach Wasser war, würde sie nie wieder vergessen können. Nein, dieses morbide Dahinsichen nicht. Glasig, sowie gleichzeitig trocken war des kleinen Mädchens Blick und gehetzt. Es war eine Hatz ums eigene Überleben. Denn lange würde sie nicht mehr durchhalten können. Eine kurze Zeitspanne noch und dann, ja dann wäre sie wieder mit ihrer Mutter vereint.

Resi fieberte weil sich ihr Körper gegen das langsame Verdursten wehrte - eine Maßnahme, ebenso sinnlos wie widersinnig. Zur Abkühlung lehnte sie ihre Stirn an die Kühle eines imposanten Baumstamms. Dieser war mächtig in seinem Durchmesser, denn sie war nicht fähig ihn mit ihren Armen zu umfangen. Das Mädchen hatte es vergebens versucht. Da hörte sie plötzlich ein leises Plätschern. So leise, dass sie es fast als ein Truggeräusch abgetan hätte. Doch sie hörte es weiter plätschern, wenngleich es auch nicht mehr als eine Ahnung war. So taumelte sie, jedoch irgendwie festen Schrittes, dem verführerischen Versprechen entgegen, ging diesem hypnotisch anmutenden Klang nach. Dann sah sie ihn, sah das dünne Bächlein, das nicht viel mehr als ein Rinnsal war und dennoch Erlösung verhieß. Resi fühlte sogleich eine Energie, einen unbändigen Schub und sie stürzte sich gierig auf das Wasser, tauchte ihren Mund ins Nass, sog es in hastigen Zügen ein. Ihr Magen revoltierte und sie erbrach die Flüssigkeit auf der Stelle. Doch das kümmerte nicht, sie probierte es einfach solange wieder, bis das erdig schmeckende Bachwasser akzeptiert wurde. Als der größte Trieb nach Durstlöschung befriedigt worden war, tauchte sie nur noch ab und zu mit einer Hand ins Wasser und führte die braune Pfütze an ihre Lippen. Resi verweilte noch lange an diesem Ort, kühlte ihre Füße. Sie genoss sogar den Schmerz, den die aufgeplatzten Blasen an ihren Sohlen verursachten. Das Mädchen war zufrieden, war von einem Hoch erfasst, einem Glücksgefühl bar jeder Beschreibung. Jetzt konnte das gefährliche Abenteuer weiter gehen, jetzt konnte sie nichts und niemand mehr aufhalten!

Die Greisin steht auf. Sie muss selbst ein dringendes Bedürfnis befriedigen. Es duldet keinen Aufschub und so geht sie langsam auf die Hauseingangstür zu. "Ich bin gleich wieder da!", sagt sie noch und sucht das Plumpsklo auf.

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Beitragvon Resi » Mo 25. Jul 2011, 20:55

KAPITEL VI

Das Ende:

Die Greisin kommt alsbald von ihrem kleinen Ausflug zurück. Die Notdurft ist verrichtet, sie fühlt sich um einiges erleichtert und ist bereit für den Abschluß. Das Sprechen am Stück ermüdet sie schneller als ihr lieb ist. Sie ist eben nicht mehr die Jüngste. Oma Gertrud geht auf ihren Platz und ruht so die brüchigen Knochen aus und beginnt aufs Neue zu erzählen:

Nach einiger Zeit, die Stunden waren wie im Flug vergangen, stand sie auf und ging ihren Weg weiter. Dabei ließ sie sich diesmal von Nebensächlichkeiten ablenken. Sie schaute fasziniert dem Fall der Kastanien zu, befreite einige aus ihrer grünen, stacheligen Hülle und versuchte ein geschäftig umherwuselndes Eichhörnchen damit zu vertreiben, indem sie die braune Kugel nach ihm warf. Resi war schlicht ganz Kind, unbeschwert und ausgelassen. Denn der Durst war gestillt und der Hunger hielt sich in Grenzen. In dieser Stimmung, in der beinahe Sorglosigkeit des Kindseins, bemerkte sie gar nicht das Lichterwerden des Waldes und fand sich dann fast unversehens an dessen Ende wieder. Resi erkannte Häuser. Davor erstreckten sich üppige Felder in denen fleißig gearbeitet wurden, wie sie aus Erfahrung sofort richtig erkannte. Allerdings sahen die fleißigen Feldarbeiter wie kleine Spielfiguren aus. Nichtsdestotrotz! Ein großes Dorf lag vor ihr. Sie war beeindruckt und das obwohl es nicht viel mehr als fünfzehn Häuser in unmittelbarer Nähe zueinander waren. Hier war ihr Freifahrtsschein in die weite Welt! Das Mädchen ging so schnell sie konnte den Feldweg entlang, beinahe stolz erhobenen Hauptes. Was sehr eigentümlich wirkte bei einem Kind dessen Kleidung zerfleddert, deren Füße pechschwarz waren und bei dem das Haar sich beinahe auftürmte, kunstvoll gestaltet vom Schmutz der Jahre und der Ignoranz eines Kamms. Dementsprechend folgten ihr dann auch die Blicke der Arbeiter. Nicht wegen ihres Aussehens, denn Landarbeiter sahen nicht viel besser aus, sondern wegen ihrer Haltung, ein Gehabe welches so untypisch für ein Kind ihrer Stellung und ihres Alters war.

Resi erreichte das Dorf. Es schien zu schlafen, träge vor sich hinzuvegetieren aber das war nur der erste Eindruck. Bei genauerer Betrachtung konnte einem aufmerksamen Beobachter das Werkeln hinter den Kulissen nicht entgehen. Aber da sie nicht gekommen war um zu bleiben, oder auch nur einen Hauch von Interesse an den Einwohnern verspürte, achtete sie nicht weiter darauf. Sie wollte nur eine Mitfahrgelegenheit und hielt dementsprechend nach einem Vehikel Ausschau. Es würde sicher im desolaten Zustand sein. Alles hier machte von Nahem einen irgendwie schäbigen Eindruck. Doch auch das war ihr egal - wenn sie nur recht bald von hier fort käme, wenn man sie nur in einem Wagen mitfahren ließ! Plötzlich musste sie sich mit einem Sprung zur Seite retten und zwar vor einer Kutsche, die in eine Kurve preschte und sie um Haaresbreite über den Haufen fuhr. Der Fahrer, ein alter Mann mit langem Zottelbart, der einen großen Hut trug, jedoch nur mühsam seine weiße Lockenpracht bedecken konnte, bremste die beiden Pferde ab. Die braunen Gäule blieben nur zu gern stehen. Schnaubend und von jedem Maul tropfte zähflüssiger Schaum, standen sie nach einer Weile still. Der Alte sprang vom Bock und lief auf sie zu: "Ist alles in Ordnung mit dir Mädchen?", rief er besorgt und half ihr mit einem Ruck, einer erstaunlich fließenden Bewegung, auf die Beine. "Mir geht es gut...", gab das Mädchen lapidar zur Antwort und klopfte sich den Schmutz vom Kleid. Es war eine fahrige Übergangshandlung die nur der Kompensation diente. "Puh, das war aber knapp!", stellte der sympathisch wirkende Mann fest und wischte sich mit dem Unterarm über die schweißnasse Stirn. Danach ging er wieder auf seine Kutsche zu, griff in eine Hosentasche und steckte einem Pferd eine Karotte ins Maul. Dem Anderen fuhr er über das feuchte Fell, tätschelte liebevoll die Kehrseite des Gauls und bestieg danach das hohe Gefährt mit den großen Rädern. Dann tippte sich der Alte verabschiedend an den Hut, nahm die Zügel in die Hand und schnalzte mit der Zunge, war bereit weiter zu fahren. Resi bemerkte sein Vorhaben und lief mit angehobenen Armen, wild damit fuchtelnd, das kurze Stück auf den Wagen zu. Dabei rief sie hysterisch: "Mitnehmen, mitnehmen!", atemlos, die kleine Kinderbrust hob und senkte sich heftig, blickte sie den netten Zottelmann an. Dieser hielt ihr nur eine seiner riesigen Arbeitshände hin und zog sie neben sich auf das Sitzbrett, während die Kutsche schon langsam anrollte. "Wo soll es denn hingehen, junge Lady?", fragte der Mann interessiert. "Weg... weit fort von hier!", war die hoffnungsträchtige Antwort auf des Alten Frage. "Dann wird Dir Thalheim gefallen...", und so fuhren sie los, fuhren Resis Zukunft entgegen.

Oma Gertrud ist zufrieden. Sie ist nun an einem Wendepunkt der Geschichte angekommen. Deswegen will die Greisin an dieser Stelle Resis schicksalhafte Abenteuer ruhen lassen und teilt es den Kindern auch gleich mit: "Für heute ist es genug und beim nächsten Mal erzähle ich euch dann eine ganz neue Geschichte, eine, die ihr noch nicht kennt!", sagt sie so beschwingt wie möglich. Um Proteste vorzubeugen, fügt sie bestimmt aber dennoch augenzwinkernd hinzu: "Immer das Gleiche zu hören ist langweilig. Ihr kennt die nächsten Etappen gut genug, ich dulde keine Widerworte!" Nach einem kurzen Tumult, verlassen die Kinder das kleine Häuschen der alten Frau und Oma Gertrud ist wieder mit sich alleine.


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