Eine alte Frau erzählt (2005)

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Resi
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Eine alte Frau erzählt (2005)

Beitragvon Resi » Mo 25. Jul 2011, 20:14

KAPITEL I

Die Begegnung:

In einer warmen Stube, auf einem Schaukelstuhl sitzend, ist eine alte, graumelierte Menschenfrau zu sehen. Sie ist umringt von einer Schar Enkelkinder, die zu ihr aufsehen. In den Gesichtern der Kinder ist Liebe zu sehen, Liebe zu dieser Frau und drängende Erwartung. Die alte Frau weiß was nun kommt, was nun kommen muss, gehört dieses allabendliche Ritual doch zu einer ihrer schönsten Angewohnheit und alle wissen um den genauen Ablauf Bescheid. Selbst der Kleinste hat seinen Part, den er nur allzu gern erfüllt. Diese alte Frau, von allen einfach nur Oma Gertrud genannt, blickt in die Runde und räuspert sich dann auffällig lange um die Spannung zu erhöhen, eine Spannung, wie sie nur Kinder empfinden können. Leise fängt sie an zu sprechen: "Welche Geschichte wollt ihr denn heute hören?", ein sanftes Lächeln umspielt ihre Mundwinkel, ein wissendes Lächeln, wohl wissend, welche Antwort sie erhält. Die Kinder antworten ohne Verzögerung im Chor: "Oma Gertrud, bitte erzähl uns die Geschichte von Resi!" Die Greisin spielt ihre Rolle perfekt und schüttelt missbilligend den Kopf: "Seid ihr es nicht müde, immer die Selbe zu hören? Lasst mich euch eine andere Geschichte erzählen!" Alle schreien, wie einem unsichtbaren Drehbuch folgend: "Resi, Resi, Resi...", Oma Gertrud hebt, sich scheinbar ergebend die Hände und beugt sich etwas nach vorne. So weit, wie es ihre morschen Knochen zulassen und sie beginnt dann mit ernster Miene und rauchiger Stimme zu erzählen:

Es war einmal, weit ab von allem was wir menschliche Zivilisation nennen, ein kleines Elfendorf. Dieses Elfendorf bestand aus wenigen Einwohnern. Alle kannten sich, alle liebten sich - mehr oder weniger. In dieser Gemeinschaft passierte eigentlich nie etwas Außergewöhnliches. Sie mussten sich mit den üblichen Alltagsnöten und Alltagsfreuden zufrieden geben. Klatsch und Tratsch war sehr beliebt. Aber hätte man sie darauf angesprochen, wäre dies wohl vehement bestritten worden. So ein banales, elfenunwürdiges Benehmen ziemte sich doch nicht! Nun, eines Tages, keiner weiß genau wann, passierte etwas. Etwas, was harmlos begann und in einer Tragödie enden sollte.

An dieser Stelle hört man Zwischenrufe der Kinder: "Oma, was ist denn eine Tragödie?" Die alte Frau antwortet ausweichend, wie immer an dieser Stelle: "Das werdet ihr noch früh genug erfahren...", und die alte Frau fährt mit der Geschichte fort:

Eines Tages kam in jenes Dorf, das weitab von allem lag, eine abgemagerte Frau. Sie war, trotz ihres erbärmlichen Zustands, schön anzusehen. Für den Geschmack der Elfen dennoch viel zu stämmig, viel zu klein und die runden Ohren wurden schlicht als hässlich kommentiert. Sie stellte sich ängstlich der versammelten Dorfgemeinde als eine Heimatlose vor, namentlich als Franziska und bat flehentlich um Hilfe. Sie war bereit alles zu tun. Die Elfen, ob dieser Bitte schier überrascht, brachten die Frau recht schnell zum Dorfältesten, damit dieser entscheiden konnte, was man nun tun sollte und wie diese Situation am besten zu händeln sei. Dort angekommen, begegneten sie sich zum ersten Mal: Franziska und der Sohn des mächtigsten Dorfbewohners standen sich gegenüber.

Die Enkelkinder, die Oma Gertrud förmlich mit den Augen an den Lippen hängen, atmen hörbar ein. Die alte Frau lehnt sich in ihrem Schaukelstuhl zurück und macht bewusst eine lange Redepause, ihre Augen dabei schließend.

Die Entscheidung:

Nach einiger Zeit, welche für die Kinder eine kleine Unendlichkeit bedeutete, öffnet die alte Frau wieder ihre Augen. Diese lässt sie dann, für einen kurzen Moment nur, auf jeden ihrer Lieben verweilen. Ihre Blicke sprechen dabei Bände: Güte, Vergnügen und pure Lebenslust, trotz ihres fortgeschrittenen Alters, spiegeln sich in diesen wider. Sie streichelt einem Enkel, mit einer erstaunlich wendigen Bewegung kurz durch das zerzauste Haar und beginnt danach leise weiter zu sprechen:

Franziska und der Sohn des mächtigsten Dorfältesten, standen sich gegenüber. Sie schauten sich an. Beide hatten das Gefühl, der Boden unter ihren Füßen würde schwanken und sie jeden Moment verschlingen. Sie standen einfach nur da, ohne ein Wort zu sagen und fühlten doch den Gleichklang ihrer Seelen. Der Dorfälteste unterbrach diesen Augenblick, indem er Franziska unfreundlich und überheblich Fragen stellte. Er wollte wissen, wie sie sich das Leben unter Elfen vorstellte, ob sie glaubte und gewillt war, sich an ihre Bräuche und Sitten anzupassen. Franziska drehte sich, drehte ihr Profil, mitsamt dem ausgemergelten Körper, zu dem furchteinflößenden Elfen und wollte antworten. Sie bekam aber beim besten Willen keinen Ton heraus. Stattdessen errötete sie nur und schaute beschämt zu Boden. Ihre Knie wackelten und ihr Herz spielte verrückt, wollte scheinbar zerspringen. Es ist ein Zustand den alle Verliebten nur zu gut kennen, ein Gefühl des Schreckens und der Schönheit zugleich. Der Dorfälteste wollte sich schon umdrehen und Franziska ihrer Wege schicken, als der Sohn sich in seines Vaters Belange einmischte: "Wir könnten ihre Dienste doch gut gebrauchen, unser Baumhaus benötigt ständig irgendwelche Reparaturen und im Haushalt kann sie sich auch nützlich machen. Ich werde mich um Franziska kümmern, ihr alles zeigen und erklären." Der Vater dachte kurz nach und nickte, legte den Arm um seine Schulter: "Talarion, du bist ab jetzt für sie verantwortlich. Wenn mir Klagen zu Ohren kommen, ziehe ich dich zur Rechenschaft, nicht sie!"

Oma Gertrud bittet ihren Lieblingsenkel ihr eine Decke zu bringen. Ihr alter Körper verträgt die schneidige Kälte des Abends nicht mehr. Die alte Frau weiß, dass ihre Zeit bald kommen wird. Ihr Geist ist zwar hellwach, sprüht voller Energie, aber ihre Hülle ist nun mal der Vergänglichkeit unterworfen, einer Vergänglichkeit, der niemand entgehen kann. Die Greisin nimmt diese Tatsache ohne ein Bedauern hin. Sie hatte ein erfülltes Leben und ja, sie begrüßt ihre Wehwehchen sogar. Sie erinnern sie an ihre Vergangenheit, wenn es auch nicht immer ein einfaches Leben war. Eines der anderen Kinder steht auf und legt Holzscheite nach. Im selben Moment kommt auch Oma Gertruds heimlicher Liebling mit ihrer selbst gehäkelten Decke zurück und legt sie ihr sacht um den zerbrechlichen Körper. Die beiden Kinder setzen sich kurz darauf wieder an ihren Platz. Danach ist nur das Knistern des Kaminfeuers zu hören und das knarrende Geräusch des Schaukelstuhls. Oma Gertrud hustet, legt die mit Altersflecken bedeckten Hände in den Schoß und erzählt weiter:

Talarion und Franziska verbrachten viel Zeit miteinander. Die menschliche, junge Frau blühte unter seiner Fittich auf, lebte sich gut ein und wurde trotzdem von der Elfengemeinschaft nicht als gleichwertig betrachtet. Franziskas Verliebtheit in den jungen Elfen wandelt sich in eine innige, tiefe Liebe. Vielleicht war dieses Gefühl auch nur trügerisch, entsprach nicht der Wahrheit. Vielleicht klammerte sie sich an den einzigen Dorfbewohner, der sie wirklich gut behandelte. Was immer sie gefühlt haben mag, die Dinge nahmen ihren Lauf. Franziskas Bauch wurde zusehends runder, sie konnte sich nicht erklären warum und schob diese Tatsache auf das gute Essen, die besseren Lebensumstände. Doch die Elfen tuschelten mittlerweile darüber. Franziska wurde unter vorgehaltener Hand beschimpft. Als die Gerüchteküche so schlimm am Brodeln war und wirklich niemand mehr die Augen vor einer Schwangerschaft verschließen konnte, bat Talorions Vater seinen Sohn zu einer Unterredung. Den genauen Wortlaut dieses heftigen Streits bekam niemand mit. Die Elfen schmückten zwar später dieses Ereignis in blumenreichen Worten aus, doch hatten sie immer dasselbe Ende: Talorion sollte sich entscheiden, er musste wählen zwischen seiner Geliebten und seiner Heimat.

Die Kinder wurden von der traurigen Stimmung getragen. Vereinzeltes Schluchzen ist zu hören. Ein unbeteiligter Beobachter wäre felsenfest davon überzeugt, sie hören die Geschichte zum ersten Mal. Auch Oma Gertrud verspürt an dieser Stelle immer ein flaues Gefühl im Magen und so muss sie kurz inne halten mit der Erzählung.

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Beitragvon Resi » Mo 25. Jul 2011, 20:19

Die Vertreibung:

Oma Gertrud leidet auch mit, sie stellt sich die Qual, die Verzweiflung vor. Sie hält sich die schiere Ausweglosigkeit vor Augen, die Talarion fühlt, gefühlt haben muss. Was würde sie selbst tun? Wie würde sie sich denn entscheiden, könnte sie sich entscheiden? Die Greisin schüttelt unentschlossen den Kopf. Sie ist froh, dass sie in ihrem langen Leben niemals vor solch einer grausamen Wahl stand. Am liebsten würde sie der Geschichte eine andere Wendung geben, eine die mehr ihrem Geschmack entspricht. Aber wer würde sie dann hören wollen? Wer würde daran Interesse haben? Sie blickt auf ihre Enkelkinder, die sie umringt haben und hört dem Schluchzen zu. Selbst die Kleinsten sind fasziniert vom Grausamen, von der Ausweglosigkeit. Die Kinder lieben es an dieser Stelle Tränen vergießen zu dürfen. Tränen, die zwar die Traurigkeit der Geschichte widerspiegeln, dessen Ursprung aber woanders zu suchen ist. Solche Schicksale sind Ventile, Ventile für die eigene Unzulänglichkeiten und heimliche Freude, dass einem selbst solche Dinge nicht widerfahren. Oma Gertrud ist überzeugt davon, dass dies der Wahrheit entspricht. Sie hat doch schon viele solcher Geschichten erzählt und immer sind es die traurigen, die schrecklichen Geschichten, die alle, auch sie selbst, in den Bann ziehen und fesseln, nicht mehr loslassen wollen. Langsam löst sich die alte Frau von diesen Gedanken. Sie fragt in die Runde, ob sie denn fortfahren. Mit einem Lächeln, einem Lächeln, das ihrem gezeichneten Gesicht noch mehr Ausdruck verleiht, nimmt sie das Nicken ihrer Lieben zur Kenntnis und beginnt:

Talarion sollte sich entscheiden. Er musste wählen zwischen seiner Geliebten und seiner Heimat. Der Vater hielt nicht sein Wort. Denn alle beide wurden zur Rechenschaft gezogen. Franziska und Talarion wurden bestraft, bestraft für eine Liebe die nicht sein durfte, bestraft, weil Toleranz, Nächstenliebe und Verständnis, keinen so hohen Stellenwertwert hatten, wie es eigentlich sein sollte. Stattdessen herrschte in diesem kleinen Elfendorf Missgunst, Tratschsucht und auch Neid. Das kleine Dörfchen, die Gemeinschaft, wurde geleitet von diesen Empfindungen. Natürlich alles unter dem Deckmantel der Ehre und des Stolzes. Nach scheinbar endlosem Ringen mit sich selbst, keiner kann sich wahrscheinlich vorstellen, wie sehr Talarion mit sich gerungen haben muss, entschloss sich der junge Elf zu einer Entscheidung. Er wollte sein Dorf nicht verlassen, er wollte seine Stellung nicht verlieren. Er war nicht gewillt, nicht einmal für Franziska, in irgendeiner Gosse zu enden. Mit Sicherheit wären die beiden Verliebten auch dort gelandet, irgendwann. Denn die Zeiten waren hart und Talarion war unerfahren und Mischlingsliebeleien nicht gern gesehen. Schon gar nicht, wenn daraus neues Leben entstand. So teilte der Sohn, mit gebrochenem Herzen und als gebrochener Mann, dem Vater seinen Entschluss mit - eine Entscheidung, die er aus egoistischen Motiven heraus getroffen. Der Vater veranlasste daraufhin in den frühen Morgenstunden die Vertreibung Franziskas.

Die alte Frau stockt kurz, muss tief Luft holen. Sie hat das Gefühl als würde ihr Brustkorb von einer unsichtbaren Kraft umklammert, einer Kraft, die sie selbst erzeugt hat und die nur sie selbst besiegen kann. Etwas außer Atem, spricht sie weiter:

Franziska wurde wie ein Stück Vieh verscheucht. Die Herde trennte sich von ihrem schwarzen Schaf, von der Außenseiterin, ohne Rücksicht auf einen Verlust, ohne Nachsicht auf eine empfindliche Seele. Ihr Wesen wurde nicht wahrgenommen, man wollte sie nicht wahrnehmen. Etwas nicht Greifbares und nicht Sichtbares, war nicht wichtig genug. Franziskas Seele zerbrach in dieser Situation, wie Glas, das zu Boden fällt. Glas, das daraufhin in seiner Ursprungsform unwiederbringlich verloren war, genau wie Franziskas Ich nun auch - ein ordinäres Ich, eines unter vielen, eines das keinen Stellenwert unter Elfen hatte. Einsam, mit bleiernen Füßen, aber ohne eine Träne zu vergießen, irrte sie nach der Vertreibung aus dem Dorf durch den angrenzenden Wald. Der gleiche Wald, der für kurze Zeit Heimat gewesen war und jetzt zu einem Albtraum wurde. Es war einer von der Sorte, der einem das blanke Entsetzen vor Augen führt, der einen wünschen lässt, man möge auf der Stelle sterben und einem doch diesen Gefallen verwehrt. Ein Alptraum, der so lange quält, bis man schreiend erwacht, nur das es für Franziska kein erlösendes Erwachen gab. Als der Abend angebrochen war, bemerkte sie, wie etwas Zähflüssiges ihre Beine hinab lief. Desinteressiert nahm sie es zur Kenntnis, es kümmerte sie nicht. Ihr Innerstes war tot. Was sollte sie da körperliche Vorgänge kümmern? Stunden später, jegliches Zeitgefühl war entschwunden, erreichte Franziska im Dunkeln, nur die Sterne am Nachthimmel dienten als Lichtquelle und unaufdringliche Wegweiser, den Waldrand. Völlig am Ende ihrer Kraft, mehr stürzend als laufend, sich dabei krümmend, nun auch noch von heftigem Wehenschmerz geplagt, sah sie in einiger Entfernung ein Haus, hinter dessen Fenster sich Leben verbarg. Leben, das Hilfe versprach und zugleich Hilfe, die Franziska nicht wollte. Ihr Kampfwille war erloschen und trotzdem trieb sie etwas an. Etwas, das sie nicht begriff. Der Überlebenswille befahl ihr, da sie sich nicht mehr stehend fortbewegen konnte, weiter zu kriechen, immer weiter. Stöhnend und unter unbändigen Schmerzen, erreichte sie den Hof des Hauses. Es war der Hof eines halbverfallenen Bauernhauses. Sie schrie, schrie so laut sie konnte und brachte doch nur ein Wimmern zustande. Dann schwanden ihr die Sinne.

Die Kinder, die Oma Gertrud zu Füßen sitzen, verstehen die Hälfte ihrer Worte nicht und doch wird die alte Frau immer nur am Anfang der Geschichte mit Fragen behelligt. Später hören sie nur zu, nichts soll ihren Redefluss unterbrechen, nichts die Stimmung beeinflussen. Die Greisin verstummt aber trotzdem. Zu aufwühlend ist das eben Gesagte. Und so sitzen alle Kinder nur stumm da, warten bis Oma Gertrud sich gefangen hat und weiter erzählen kann.
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Beitragvon Resi » Mo 25. Jul 2011, 20:23

KAPITEL II

Die Geburt:

Oma Gertruds stahlblauen Augen verlieren etwas an Leuchtkraft. Ihre fahle Haut wird noch eine Spur fahler. Ungeschickt schließt sie mit ihren knorrigen Fingern den obersten Knopf ihrer Weste. Bei genauerem Hinsehen sieht man, wie ihre Hände zittern, sie zittern vor Aufregung. Es ist kein Symptom ihres Alters. Leise, so leise, dass die Kinder etwas näher rücken müssen, spricht sie weiter:

Franziska schwanden die Sinne. Sie lag bäuchlings im Dreck, es konnte kein besseres Sinnbild für ihre geistige und körperliche Verfassung geben. Auch das Bauernhaus war in einem desolaten Zustand, ebenso der sich ans Haupthaus anschließende Stall. Im fahlen Schein des sichelförmigen Mondes, gab alles zusammen eine hervorragende Kulisse ab. Eine Kulisse, wie man sie sich gern in Gruselgeschichten vorstellt, eine, die keiner großen Phantasie bedarf und doch ihren Zweck erfüllt. Die Tiere im Stall wurden unruhig. Schafe begannen zu blöken, Ziegen meckerten, die Kuh gab ihren typischen Laut von sich und das Pferd schnaubte, scharrte mit den Hufen. Im Bauernhaus wurde das Licht einer Kerze entzündet. Aufgeregte Stimmen waren zu hören und kurz darauf das quietschende Geräusch einer sich öffnenden Tür. Vorsichtig, mit leisen Schritten, erschien in dessen Rahmen der Hausherr, ein Bauer: Klein, ungewaschen und mit schlechten Zähnen bestückt. Hektisch sah er sich um. Auf das Schlimmste gefasst, bereit sich und seine Frau zu verteidigen. Wobei sein Hauptaugenmerk auf sich selbst lag. Als er nichts entdecken konnte, nichts, was ihm verdächtig erschien und er sich schon wieder in sein Bett begeben wollte, nahm er aus den Augenwinkeln heraus Franziskas Gestalt am Boden liegend wahr. Leise vor sich hinfluchend, ging er auf sie zu. Bei ihr angekommen, blieb er etwas unschlüssig stehen und trat dann, einen Entschluss gefasst, einmal kräftig auf sie ein. Doch Franziska rührte sich nicht, es kam keine Reaktion. Kurzerhand packte er sie an den Haaren, um in ihr Gesicht sehen zu können, ließ ihren Kopf dann wieder unsanft fallen und brüllte lauthals nach seiner Frau. Die Bauersfrau, deren Figur man nur als unförmig bezeichnen konnte, kannte diesen Tonfall ihres Mannes zur Genüge. Sie wusste, dass dieser Ruf keine Trödelei duldete und so nahm sie, sprichwörtlich und tatsächlich, die Beine in die Hand. Schnaufend bei Franziska angekommen, begriff sie sofort den Ernst der Lage. Vor sich sah sie eine Frau, die ein Kind erwartete. Flüsternd teilte sie das ihrem Mann mit und wich nach Gesagtem vorsorglich zurück. Sie wusste, sie konnte es seiner Mimik entnehmen, dass er kurz vor einem Tobsuchtsanfall stand und er dann seine Wut loswerden musste - eine Wut, die er immer auf dieselbe Weise abschüttelte. Und wie es die Bäuerin befürchtet hatte, bekam sie auch prompt eine schallende Ohrfeige verpasst. Mit Tränen des Schmerzes in den Augen, schlug die dicke Frau vor, Franziska in den Stall zu schaffen. Die beiden Bauersleute brachten sie auch stillschweigend zu der Tierbehausung. Dort angekommen, luden sie den immer noch bewusstlosen Körper wie einen Kartoffelsack ab, ohne erkennbare Gefühlsregung. Der Hausherr raunte seiner Angetrauten zu, sie solle sich der Sache annehmen und verschwand aus dem Stall.

Franziska schlug die Augen auf, riss sie weit auf und nahm ihre Umgebung trotzdem nicht wahr. Gepeinigt von Schmerz, eine Pein, die ihren Unterkörper wellenförmig gefangen hielt, roch sie nicht das duftende Heu worauf sie lag, hörte sie zwar die männliche Stimme, die etwas sprach, begriff aber deren Sinn nicht. Sie wollte schreien, sich so Erleichterung verschaffen und gab sich der Illusion hin, wenn sie nur schrie, hörte der Schmerz auf. Aber ihr fehlte schlicht die Kraft dazu. Franziska musste für den langen Marsch und den hohen Blutverlust ihren Tribut zahlen. Sie konnte dieses Bedürfnis zu Schreien nicht ausleben, selbst das blieb ihr versagt. So ergriff sie nur schwächlich ein Stück Stoff ihres Kleides und drückte es. Die Bauersfrau war schon bei unzähligen Tiergeburten Hebamme gewesen. Sie winkelte Franziskas Beine an und hantierte dann mit Brachialgewalt, so wie sie es auch bei den Tieren immer tat, in Franziskas Leib. Ab und zu befahl ihr die dicke Frau, sie solle pressen. Doch Franziska war dazu nicht mehr in der Lage. Sie röchelte nur noch, ihr Atem war flach und kaum wahrnehmbar. Sie hatte keine Ahnung, wer sich da um sie bemühte und es war ihr auch egal. Sie wollte nur noch sterben und diese Bitte wurde auch erfüllt. Noch bevor sie den ersten Schrei ihres Kindes hören konnte, hauchte Franziska ihr Leben aus. Sie beendete ihr Leben mit weit geöffneten Augen und wurde doch von einer immer währenden Dunkelheit empfangen, einer Dunkelheit aus der es kein Zurück mehr gab. Mit einem Ruck und ohne zu wissen, dass Franziska soeben gestorben war, holte die Bäuerin das Baby auf die Welt. Es war winzig klein, viel kleiner als voll ausgereifte Neugeborene. Seine Lippen waren bläulich, die zarte Babyhaut hatte einen schmutzig, grauen Farbton angenommen. Aber das Baby war dennoch am Leben und es war ein Mädchen.

Alle Zimmergeräusche waren verstummt. Still ist es in Oma Gertruds Stube. Es ist eine bedrückende Stille, eine, in der man sich unbehaglich fühlt. Die Greisin trocknet sich mit ihrem Handrücken die Tränenspur, die sie lautlos während des Erzählens gelegt hat. Aufmunternd schaut sie ihre Lieben an: "Es ist ein Mädchen!"

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Beitragvon Resi » Mo 25. Jul 2011, 20:29

Die Namensgebung:

Oma Gertrud lässt die etwas schwer gewordenen Augenlieder fallen. Sie muss das eben Erzählte, diese schreckliche Geburt, noch einmal Revue passieren lassen. Ja, sie muss es, obwohl sich alles in ihr sträubt. Seufzend, die Bilder noch eine kurze Weile im Kopf festhaltend, blinzelt sie dann. Zuerst sieht sie verschwommen, hernach wieder klarer und betrachtet die Gesichter ihrer Enkel. Im gedämpften Tonfall wiederholt die alte Frau immer und immer wieder, mehr zu sich selbst, als zu den Kleinen: "Es ist ein Mädchen!"

Das Mädchen tat, trotz ihres erbärmlichen Zustandes, den ersten Schrei. Es war kaum zu glauben, aber dieses schmächtige Etwas hatte kräftige Lungen, saugte reflexartig die stickig warme Stallluft ein und sorgte so dafür, dass sich Haut und Lippenfarbe normalisierte. Die unförmige Bauersfrau betrachtete eine unbestimmbare Zeit das schreiende Baby, beobachtete seine zaghaften Ruderbewegungen, hielt es dabei still in ihren kräftigen, von Schwielen bedeckten Händen und sah erst dann zur Mutter. Sie wollte ihr etwas zurufen, öffnete bereits den Mund und stockte, würgte den Ton ab, der sich seinen Weg in Franziskas Gehör bahnen sollte und es nun nicht mehr konnte. Ihr dickes, aufgeblähtes Gesicht wurde fratzenhaft, es erstarrte vor Entsetzen, als sie erkannte und begriff: Lebendige, sehende Augen blickten in eine ausdruckslose Leere, eine Kälte, die nur der Tod ausstrahlen konnte. Diese Erkenntnis ließ sie taumeln, emotional taumeln, als wäre sie von einem Holzhammer getroffen worden. Ein paar Schritte zurücktretend, schüttelte sie langsam den Kopf. Die Gedanken verdrängen wollend - ein aussichtsloses Unterfangen. Die Bäuerin machte sich Sorgen, Sorgen wie sie sich nur eine unterjochte, misshandelte Frau machen konnte. Sie wusste zwar, wie ihr Mann reagieren würde, wenn er vom Tod Franziskas erfuhr. Aber nicht, wie schlimm seine Reaktion ausfallen würde. In all dem Gewirr aus Befürchtungen, die sich alle nur um sich selbst drehten, gab es keinen Platz für das Bedauern anderer Menschen, konnte es auch keinen Raum dafür geben. Ihr stand, man kann sie vielleicht ein bisschen verstehen, nicht der Sinn danach, ein Baby, das nicht ihres war, zu bemitleiden und um eine unbekannte Person zu trauern, auf deren Begegnung sie gut und gerne verzichten hätte können. So stand sie also ein paar Minuten da, das Baby auf dem Arm haltend, noch immer den Kopf schüttelnd, bevor sie vorsichtig wieder näher zu Franziska trat und sich dann umständlich vor den erkalteten Körper kniete. Mit einer fahrigen Handbewegung schloss sie deren Augenlieder. Sie wollte nicht mehr in Franziskas Augen sehen. Für diese Augen war der ewige Vorhang gefallen, diese konnten kein Leid mehr erblicken und miterleben. Sie, die Frau eines Tyrannen, jedoch schon.

Langsam erhob sie sich. Das nun wieder schreiende Baby fest an sich gedrückt, als könnte das kleine Ding ihr Halt geben. Die Bäuerin ging die paar Schritte zur Stalltür. Es waren schlurfende Schritte. Die kurze Strecke kam ihr wie eine kleine Unendlichkeit vor. Vergleichbar mit dem Gefühl, das man verspürt, wenn man des Nächtens ganz alleine eine dunkle Gasse entlang gehen muss. Mit hängendem Kopf öffnete sie die Tür des Stalles. Diese gab sofort ein knarrendes, empört aufschreiendes Geräusch von sich. Erschrocken fuhr ihr Kopf wieder hoch, als hörte sie das vertraute Geräusch zum ersten Mal. Dann lenkte sie ihren Blick auf das Bündel Leben. Es musste versorgt werden. Nein, sie empfand nichts für dieses Geschöpf, aber sie war dennoch kein Unmensch. Das Leben, ihr Leben mit diesem Mann, es war eine Zwangsheirat gewesen, hatte sie hart werden lassen. Eine Weile blieb die Bauersfrau unschlüssig vor der geöffneten Stalltür stehen und schaute in den Hof. Mutig fasste sie sich ein Herz, es war ein Mut, den sie keinesfalls natürlich verspürte, sondern sich krampfhaft erzwang. Ihr blieb auch nichts anderes übrig, sie musste ins Haupthaus zurück, ob sie bereit für das Kommende war oder nicht. Dann sprach sie laut, sodass ein Vogel in unmittelbarer Nähe in seinem Dämmerschlaf gestört wurde: "Ich werde jetzt zu ihm gehen. Ja, das werde ich! Aber vorher bekommst du von mir noch einen Namen!", sich selbst zunickend, als bräuchte sie diese Bestätigung, pustete sie dreimal in den spärlich vorhandenen Haarflaum des Kindes und verkündete, als würde sie zu einem Publikum sprechen: "Sie heißt ab jetzt Resi!" Die Bäuerin streckte ihr Kinn nach vorne und trat ins Freie, in die aufkeimende Morgendämmerung. Sie überquerte die Distanz zum Hauptgebäude im Eiltempo, denn die Zeit des Zögerns war nun vorbei.

Rasch öffnete die Bauersfrau die Tür ihres Zuhauses. Nein, sie öffnete die Pforte zur Ehehölle. Vorsichtig, so vorsichtig wie sich ein sehr fülliger Körper eben bewegen konnte, schlich sie ins Innere, schlich sie in die Küchenstube. Dort entzündete die dicke Frau Kerzen als Lichtquelle und ein Ofenfeuer um Kuhmilch für das Baby wärmen zu können. Ganz in ihrem Tun vertieft, dabei Resi ständig im Arm haltend, bemerkte sie nicht, dass ihr Mann erwacht war und sie aus grimmigen Augen ansah. Bevor die Bäuerin auch nur ein Wort verlauten lassen konnte, stand er schon vor ihr. Fast knurrend fragte er: "Weib, was macht dieser Bastard hier im Haus?" Erschrocken, einen Arm reflexartig vor dem Kopf haltend, erwiderte sie: "Die Frau, die Frau im Stall ist tot!" Eine Schrecksekunde rührte sich daraufhin keiner. Dann schrie der Hausherr cholerisch auf: "Du blödes Weibsstück, du bist doch wirklich zu nichts zu gebrauchen! Schleppst mir so einen plärrenden Nichtsnutz ins Haus. Na warte, dir werd ich’s zeigen...", während seines Gebrülls hatte er beide Fäuste geballt und nun drosch er auf die Frau ein, ohne Rücksicht auf das Baby zu nehmen und so bekam Resi, wenn auch unabsichtlich, ihre erste Tracht Prügel. Nach einiger Zeit - waren es Minuten oder Stunden? - ließ er von seiner Angetrauten ab, entledigte sich seelenruhig seiner Nachtkleidung und zog die Alltagskleidung an, als wäre nichts gewesen. Danach griff er zum Spaten um ein Grab zu schaufeln, denn er wollte Franziska so schnell als möglich verscharrt wissen.

Hustend unterbricht die alte Frau die Erzählung. Ihr Hals ist trocken, das lange Sprechen strengt sie an. Oma Gertrud fasst sich mit einer Hand an die Kehle und klopft sich mit der anderen an die Brust. Mit brüchiger Stimme beginnt sie zu flüstern: "Das Halbwaisenkind hat einen Namen...", dann bittet sie den Ältesten um einen Gefallen. Er soll ihr ein Glas Brunnenwasser bringen. Still und geduldig wartet die alte Frau auf das Wasser.
Zuletzt geändert von Resi am Mo 25. Jul 2011, 20:32, insgesamt 1-mal geändert.

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Beitragvon Resi » Mo 25. Jul 2011, 20:31

Der Widerstand:

Die alte Frau nimmt das soeben gebrachte Glas Wasser entgegen, hält es kurz zwischen beide Hände und trinkt erst dann einen Schluck. Zufrieden leckt sich Oma Gertrud über den rissigen Mund, dessen Innerstes im Laufe des Lebens fast zahnlos geworden ist. Mit einem Nicken dankt sie ihrem Enkel für den Gefallen. Sie lehnt sich im Schaukelstuhl zurück, zieht ihre selbst gehäkelte Decke, die im Zuge der Erzählung ihren Schwerpunkt immer mehr nach unten verlagert hat, zurecht. Nach einem kurzen Räuspern, befeuchtet sie mit dem Wasser abermals ihren Gaumen und reicht das Glas weiter, damit es weggestellt wird. Danach schaut sie auf die Zimmerdecke und beginnt die Geschichte weiter zu erzählen:

Neun Jahre waren vergangen. Aus dem Baby war ein kleines Mädchen, mit ungepflegtem Äußeren geworden. Resis Haar war goldbraun, gelockt und stand ihr stets ungekämmt zu Berge. Das Gesicht war meistens schmutzig und ihre Fingernägel wurden immer von einem schwarzem Halbmond verziert. Abgetragene und löchrige Kleidung umhüllte den kleinen, spindeldürren Körper. Sie war erbärmlich anzusehen und dennoch war man bei Resi nicht versucht, sie zu bemitleiden. Ihr Auftreten hatte etwas Wildes, etwas Ungebrochenes. Vielleicht war es so etwas Ähnliches wie Stolz. Vielleicht war es aber einfach nur der Überlebenswille, ordinärer Lebensinstinkt eines jungen Mädchens.

Eines Morgens, es war noch viel zu früh zum Aufstehen, erwachte Resi aus ihrem unruhigen Schlaf. Sofort griff sich das Mädchen an die rechte Rippenseite. Sie hatte am Vortag etwas Pökelsalz verstreut und ihr Ziehvater, sie nannte ihn insgeheim immer nur Herbergsgeber, erteilte ihr deswegen eine kleine Lektion. Langsam zog sie ihr Hemdchen hoch und betastete die große, blaue Stelle. Zischend die Luft ausstoßend, bedeckte sie den Fleck wieder mit dem Hemd. Dann setzte sie sich auf, entfernte nachlässig das Heu aus ihrem Haar und schaute zu den Tieren. Da wo sie geboren war, da wo sie ihren ersten Atemzug tat, das war der einzige Ort in dieser Welt, wo sie so etwas wie Geborgenheit empfand, wo sie eine Ahnung erhielt, wie sich dieses Gefühl anfühlen könnte. Trübselig blickte sie ins Dunkel, sie mochte diese Zeit gar nicht, mochte es nicht, zuviel Zeit zum Nachdenken zu haben. Doch diese Zeit hatte sie nun und die Gedanken ließen sich nicht verdrängen, füllten sie aus, bedrängten sie, es gab kein Entkommen. Resis junger Geist wanderte in die nahe Vergangenheit, ließ sie an eine Begebenheit denken, ein Ereignis, das so typisch war - man könnte eigentlich schon normal dazu sagen - dass es sich fast nicht lohnte, darüber nachzudenken. Wäre da nicht ihre ungewöhnliche Reaktion darauf gewesen, dieses eine Erlebnis nicht ein wichtiges Puzzelteil in ihrem Leben. Es formte das kleine Kind, es formte Resis Charakter, ihr Verhalten, ihr Reagieren war anders, ganz anders als sonst.

Mit einer Vorstellungskraft, die alle ihre Sinne betraf, einer Gabe, die in ihrem Fall fast ein Fluch war und einer Phantasie, wie sie sicherlich nur bei Kindern anzutreffen ist, erlebte sie das Vorgefallene noch einmal: Im Jetzt, im Stall. Resi roch die Blumen der Wiese, sie spürte den Tau unter ihren nackten Fußsohlen, schmeckte die frische Luft auf ihrer Zunge und dieses Nachempfinden entlockten ihr ein zaghafte Lächeln. Es war ein unbeschwerter Tagesbeginn. Die Stallarbeit war verrichtet worden und sie konnte durch die Gegend streifen, Käfer und Schmetterlinge bei ihrem geschäftigen Treiben beobachten, einfach das Kindsein genießen. Als sie so in ihrem Spiel, in ihrem Erforschen der Gegend vertieft war, hörte sie ein zartes Fiepen, so zart, dass sie es beinahe überhört hätte. Überrascht schaute sie sich um und horchte angestrengt, damit sie den Ursprung des Lautes ausmachen konnte. Sie näherte sich langsam der Stelle, der festen Überzeugung, dass die Quelle im Dickicht eines Gestrüpps zu finden war, der nur eine Armlänge von ihr entfernt war. Ohne Rücksicht auf ihre Haut, kroch sie hinein und bekam auch prompt die Rechnung serviert - eine Rechnung in Form von lauter winzigen, schmerzhaften Kratzern. Endlich war sie dann am Ziel angekommen. Resi erblickte den Verursacher des Rufs. Es war ein Hundebaby, ein niedliches kleines Hundebaby. Schwarz war sein Fell, nur über dem linken Auge, einem verwegenem Piraten gleich, gab es ein hellbraunes Oval. Behutsam, als würde sie die Eier der Stallhühner einsammeln, hob sie das Hundejunge hoch, streichelte ihn hinter den Ohren und sprach: "Warum bist du denn ganz alleine hier? Wo ist Deine Mama?" Nach diesen Fragen, Fragen auf die sie keine Antwort erwartete, sah sie sich kurz um. Der Entschluss ihn mitzunehmen, war schon längst beschlossene Sache. Es war ihr egal, ob er vielleicht vermisst werden könnte. Sie wollte ihn mitnehmen, sie wollte ihn besitzen, jemanden ganz für sich alleine haben. Kurz darauf bahnte sie sich wieder ihren Weg durch das Gestrüpp zurück. Dann begutachtete sie ihn einige Zeit mit Augen und Händen. Ein wenig zu grob. Es ist eine Grobheit, die nicht aus Boshaftigkeit entstand, sondern aus mangelndem Einfühlungsvermögen. Dann lief sie wieder in den Stall, darauf bedacht, dass das Bauernehepaar ihren Schatz nicht entdeckte.

Dieses Versteckspiel hielt einige Tage an. Resi teilte ihr weniges Essen mit diesem Hund. Das Hündchen erfreute sie mit seiner Anwesenheit, gab ihr Trost, wenn die Schläge des Bauern wieder einmal sehr schlimm ausgefallen waren. Doch es kam der Tag - es musste der Tag kommen! - an dem ihr Geheimnis entdeckt wurde. Resi war ihn der Küchenstube tätig. Sie hatte Brot zu backen und der cholerische Bauer arbeitete im Stall, reparierte das Bretterdach, welches sowieso kaum mehr als solches zu bezeichnen war. Nichts ahnend, knetete sie gerade den Teig, als er nach ihr schrie, wie von Sinnen brüllte. Kreidebleich ließ sie alles liegen und stehen, rannte in ihre Schlafstätte und sah wie ihr Ziehvater sich gerade über den Hund beugte. Er riss den Stofffetzen, den sie ihrem Hund liebevoll untergelegt hatte, ungestüm beiseite. Der Bauer bemerkte alsbald ihr Auftauchen, trat mit einem Ausfallsschritt zu ihr und packte sie am Ellbogen, schleuderte Resi zu dem Hündchen, die dadurch beinahe auf ihn gefallen wäre. "Wer hat dir erlaubt, dieses Flohding in den Stall zu bringen?", mit hochrotem Gesicht ergriff der Choleriker dabei das Bein des Tieres, beutelte das hilflose Lebewesen, das dabei herzzerreißend aufjaulte und ihn zu beißen versuchte. Wutentbrannt, dieses Gefühl verdrängte alles andere komplett, rappelte sie sich langsam wieder auf. Resi war nun bereit sich zu wehren, ihren Hund gegen dieses Scheusal zu verteidigen. Ja, sie war mehr als bereit ihrer Impulsivität, ihrer aufgestauten Wut und ihrem kindlichen Hass freien Lauf zu lassen. Irgendwann gibt es nämlich bei jedem Lebewesen, mag es noch so jung sein, eine unsichtbare Schranke an dem es genug ist. An dem man nicht mehr bereit ist einzustecken, alles über sich ergehen zu lassen. Diese Schranke hatte der Tyrann nun überschritten. Resi warf ihre kleinen, schmutzigen Arme in die Höhe und schrie sich ihren Zorn von der gequälten Seele. Es war ein Schrei, der keinerlei dauerhafte Befreiung versprach und doch notwendig war. So stürzte sie sich auf den Bauern, ihrem Herbergsgeber.

Oma Gertrud beendet hier kurz die Geschichte um dem Ganzen noch mehr Dramaturgie, einem Bühnenspiel gleich, zu verleihen. Sie will der Erzählung Leben einhauchen, Spannung erzeugen, die die Kinder fesseln soll. Die alte Frau lässt den Kopf wieder sinken, blickt gerade aus, dabei ins Leere starrend und schweigt einige Minuten.

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Beitragvon Resi » Mo 25. Jul 2011, 20:33

Der Tod:

Die Greisin sitzt in ihrem Sessel, schweigt um der Dramatik mehr Nachdruck zu verleihen und die Kinder reagieren auch sofort wie erwartet. Auf ihren Gesichtern zeichnet sich eine breite Palette an Gefühlsregungen ab. Ein Potpourri an Emotionen ist zu sehen und diese Gefühle lassen die Kleinen nicht mehr still sitzen. Oma Gertrud lässt sich Zeit, lässt ihren Blick durch die Stube gleiten, schenkt den Einrichtungsgegenständen aber keine große Aufmerksamkeit. Dann findet das Abschweifen ihres Blickes im Funkenflug des Kaminfeuers ein jähes Ende. Die alte Frau verliert sich einen Moment lang in der hypnotischen Wirkung des feurigen Elements, bevor sie die Geschichte weiter erzählt:

Resi schleuderte zum Zeichen ihrer Kampfeslust, die kleinen, schmutzigen Arme in die Höhe und schrie laut auf, gab so ihrem Zorn eine Stimme. Mit gesenktem Oberkörper, einer Haltung, die ungefähr einem wütenden und gereizten Stier entsprach, attackierte das Mädchen ihren Ziehvater. Sie stürzte sich mit aller Kraft auf ihn, schmiss sich mit einer Wucht, die kaum Schaden anrichten konnte, deren verklärtes Ziel es aber war, genau das zu verursachen, kopfüber auf den personifizierten Abschaum. In höchster Erregung traf ihr Kopf und dann der angespannte, restliche Kindskörper, auf den Körper eines erwachsenen Mannes, traf auf eine Gestalt, die schweißtreibende Arbeit gewohnt war und die einiges aushielt. Das Mädchen spürte den Schmerz des Aufpralls jedoch kaum. Ihre Wut, das Zirkulieren des Adrenalins in ihrer Blutbahn, sorgte für eine gewisse Unempfindlichkeit. Kurz nach dem Zusammenstoß, eigentlich fast zeitgleich mit dem Aufprall, klammerte Resi sich an seinen Brustkorb. Das Klammern ging aber schnell in ein wildes Schlagen über und fand mit halb geschlossenen Fäusten, einem Trommeln, das zum Schluss nicht viel mehr als ein Streicheln war, sein langsames Ende.

Der Bauer rührte sich die ganze Zeit nicht, blieb erstaunlicherweise wie angewurzelt stehen, ließ Resi ohne auszuweichen gewähren. Er war einfach zu überrascht, wurde von dem kleinen Mädchen und dessen Aufbegehren überrumpelt. Er hatte mit Sicherheit niemals mit einer Gegenwehr gerechnet. Denn der Widerstand, ein Auflehnen, konnte sich der tyrannische Hausherr wahrscheinlich nicht einmal in seinen kühnsten Träumen vorstellen. Und so blickte er sie nur an. Zuerst fassungslos, dann spöttisch und zum Schluss starrte er gehässig. Es war ein widerliches Anstarren, eines, das selbst hart gesottenen Individuen das Fürchten lehren konnte. Achtlos, als würde er ein lästiges Insekt verscheuchen, stieß er Resi mit einer ausholenden Armbewegung von sich und hob dann das Hundebaby, welches er mit der anderen Hand noch immer am Bein festhielt, langsam bis in Schulterhöhe. Das Tier versuchte sich natürlich auch weiterhin zu befreien, kämpfte verzweifelt, aber sinnlos gegen den Griff an - einem Festhalten, welches dem eines Schraubstocks glich. Als er es endlich schaffte den Mann zu beißen, fiel sein Blick, dieses hasserfüllte Starren, auf das Hündchen und der Bauer verzog dabei seinen Mund um so etwas Ähnliches wie ein Lachen von sich zu geben. Sein ruinenhafter Zahnzustand wurde dabei sichtbar. Es war ein ekelhafter Anblick, genauso ekelhaft und grausam, wie dieses lachähnliche Geräusch. Der jähzornige, leicht reizbare Hausherr, war ansonsten seltsam zurückhaltend. Dann sprach er mit einer unterschwelligen Drohung zu Resi: "Komm her!", mehr sagte er einstweilen nicht, aber mehr musste er auch nicht sagen. Resi gehorchte seinem Befehl, folgte automatisiert dieser Aufforderung. Ihr Kampfwille war mittlerweile wieder verschwunden. Die Flammen ihres feurigen Temperaments waren gelöscht, die heiße Glut des Beschützerinstinkts war verglommen und auch der Rauch hatte sich verzogen. Sie war eben doch nur ein kleines Mädchen, ein Kind, das ihr Herz einem Hund geschenkt hatte und es nun bitterlich bereute. Fast teilnahmslos, eine beängstigende, stoische Gemütsverfassung hatte sie erfasst, trat sie wieder näher, sah dabei zu Boden. "Schau mich an!", flüsterte ihr Ziehvater gepresst und auch diese Anweisung folgte sie ohne Verzögerung. Der Bauer legte daraufhin seine freie Hand an den Nacken des Tieres, tat so als würde er dem Hundebaby das Genick brechen wollen und grinste dabei höhnisch, fratzengleich. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schmiss er den jungen Hund an seinem zappelnden Bein weiter festhaltend, immer und immer wieder gegen die Stallwand. Seine Gesichtszüge verzerrten sich dabei vor Anstrengung, seine Zunge lugte seitlich zwischen den Lippen hervor. Es war das Gebaren eines völlig Wahnsinnigen, es war eine Tat, die wohl nur jemand zustande bringt, der keine Gewissensbisse kennt und der es liebt zu Quälen, sich am Schmerz anderer Lebewesen ergötzt.

Der Hund war schon lange tot als ihr Ziehvater endlich von ihm abließ. Resi stand die ganze Zeit nur regungslos da, sie weinte nicht, diese Genugtuung wollte sie ihm nicht verschaffen. Ohne eine Empfindung preiszugeben, hatte sie dem Herbergsgeber zugesehen, hatte sie der sadistischen Tötung beigewohnt und dabei ihre Seele abgeschirmt, eine hohe Mauer aufgebaut und sich etwas geschworen: Sie wollte nie wieder jemanden lieben. Resi wollte sich nie wieder gefühlsmäßig an ein atmendes Wesen binden. Nein, das würde sie nicht mehr zulassen. Der Bauer lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf das Kind. Er ging mit einer, immer noch geistesgestörten Körpersprache, einem unzurechnungsfähigen Erscheinungsbild auf Resi zu und lächelte sie fast liebevoll an: "Jetzt kümmere ich mich um dich, kleines Fräulein!"

Oma Gertrud ballt ihre Hände zu Fäusten, bohrt ihre altervergilbten Fingernägel in die Handflächen. Während der Erzählung ist sie wütend geworden und ist es immer noch. Um sich zu beruhigen, lässt sie wieder das Kaminfeuer auf sich wirken, lässt sich in seinen Bann ziehen. Sie will in dieser Position verharren und zwar solange, bis sich ihre verkrampften Hände wieder lösen, erst dann wird sie bereit sein, weiter zu sprechen.
Zuletzt geändert von Resi am Mo 25. Jul 2011, 20:37, insgesamt 1-mal geändert.

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Beitragvon Resi » Mo 25. Jul 2011, 20:35

Die Bestrafung:

Die alte Frau, deren Vergänglichkeit schon längst keine unvorstellbare, in weiter Ferne liegende Möglichkeit mehr ist, ballt die Fäuste mit einer Kraft, die man ihr niemals zugetraut hätte. Ihre Nägel zeichnen sichtbare Sicheln in ihr unelastisches Fleisch. Nur langsam löst sie ihre verkrampfte Fingerbeugung wieder. Der selbst zugeführte, jedoch nicht beabsichtigte Schmerz, hat die Wut etwas beiseite gewischt und die Aufmerksamkeit von der Feuerstelle weglenken können. Oma Gertrud schaut wieder in die Runde und beginnt dabei holprig, sich zum Weitersprechen zwingend, aufs Neue:

"Jetzt kümmere ich mich um dich, kleines Fräulein!", sprach der Bauer und näherte sich ihr mit diesem unbestimmten und doch bestimmbaren Ausdruck in den Augen, inklusive dem fast liebevollem, freudigen Lächeln. Der Hausherr war wie im Delirium. Ein fiebriger Wahn hatte ihn gepackt, geboren aus Hass. Dieser Zustand, die scheinbare Bewusstseinstrübung, nährte sich gierig von diesem Gefühl. Es entstand eine perverse Symbiose. Der Mann, ein Mann, der nie gelernt hatte, seine Aggression zu zügeln, der nie gelernt hatte, sich sozial zu Verhalten, dieser Mann war nun gefangen, gefangen in einer Spirale aus Hass, einem Wirbel aus unbeschreiblicher Wut. Als er nur noch eine halbe Armlänge von ihr entfernt war, blieb er stehen und Resi nahm den fauligen, bestialischen Gestank seines Atems wahr. Dieser Geruch, der vertraute Gestank, vertraut aber dennoch widerlich, umhüllte sie, schlug ihr penetrant entgegen. Doch sie wich trotzdem nicht zurück. Sie blieb weiterhin einfach nur stehen und atmete durch den offenen Mund, blickte ihn an und zwar mit Augen, die nichts mehr erschüttern konnten. Beide standen sich einen Moment lang still gegenüber. Spannung lag in der Luft, ein lautloses Knistern. Es war die berühmte Ruhe vor dem Sturm, eine unheilgeschwängerte Ruhe in der man keine Geräusche mehr wahrnimmt, in der die Zeit für einen Sekundenbruchteil stehen blieb, jedes Leben erstarrte.

Und genau diese Ruhe wurde durch den ersten Schlag, als der Bauer dem kleinen Mädchen sein Knie in den Magen rammte, beendet. Resi ließ den Auftakt zu den nun folgenden Qualen, die Ouvertüre des Kommenden, ebenso eigentümlich über sich ergehen, wie sie es auch bei der Tötung des Hundes getan hatte. Sie schrie nicht, sie weinte nicht und tat dies auch später nicht. Sie reagierte lediglich, ihrem Schutzinstinkt folgend. Nur einmal schöpfte sie Hoffnung - Hoffnung, wenn alles verloren ist, sie bleibt! Ein einziges Mal wagte Resi an ein baldiges Ende der Tortur zu hoffen und wurde enttäuscht. Ihr Ziehvater hatte nämlich, was kaum verwunderlich ist, von der Misshandlung und den wuchtigen Schlägen, auch Abschürfungen und Blessuren davongetragen und inne gehalten. Doch dann tobte er wieder, sogar noch viel rabiater. Er gab ihr die Schuld an seinen Verletzungen und auch dafür sollte sie büßen, musste sie bestraft werden. Und so bekam Resi für dieses Vergehen seine erneute, verabscheuungswürdige Aufmerksamkeit, in Form von Tritten und Fausthieben. Denn er konnte sie ja keinesfalls ungeschoren davonkommen lassen. Nein, dann ginge ja jeder Respekt flöten, dann wäre es mit seiner Hierarchiestellung aus und vorbei. Sein Denken, sein Handeln folgten einer kranken Logik, einem gestörten Verhältnis zur Realität. Sein fehlgesteuerter Geist, diese gewalttätige Ader, agierte aus einer impulsiven Gefühlsregung heraus und befanden sein Tun für richtig und gut. Der Hausherr gab ihr nur die verdiente Lektion, das sah er als seine Pflicht an und deshalb malträtierte er Resi, musste er ihr Leid antun. Er steckte tief in einem Sumpf, dem Abgrund der primitiven Triebe, in einem Sog aus dem er sich wohl kaum selbst befreien konnte und es vermutlich auch gar nicht wollte. Als der Bauer müde von der Anstrengung wurde, keuchte und stark schwitzte, spuckte er sie an und dieses Spucken beendete die halbstündige Odyssee, diese Irrfahrt des Wahnsinns. Der Abschluss war ein Zeichen höchster Verachtung, machte deutlich, dass er nichts, rein gar nichts bereute. Dann drehte er sich zum Gehen weg und sprach dabei zu sich selbst: "Nun wird sie es nicht mehr wagen die Hand gegen mich zu erheben, das kleine Miststück!", sich die eigenen Hände reibend, verließ er den Stall mit einem guten Gefühl.

Resi lag aufgrund seiner Gewaltorgie blutend im Stall. Genau wie vor neun Jahren ihre Mutter, fast genau an derselben Stelle. Dieser Bretterverschlag war zu einem ein Hort des Leidens verkommen. Das Schicksal, Gott - oder an was man glauben mag - hatte einen sehr morbiden und moralisch bedenklichen Humor. Das kleine Mädchen Resi war schwer verletzt. Sie kämpfte um ihr Überleben, kämpfte einen fast aussichtlosen Kampf und stellte sich trotzdem, wenngleich auch unfreiwillig dieser Herausforderung. Unfreiwillig deshalb, weil ihr Leben, dieses Leben es eigentlich nicht wert war, dass man darum kämpft, es aber kein freiwilliges Aufgeben gab. Die Natur, der Überlebenskampf war eben stark. Ihr junger, ansonsten gesunder Körper, stellte sich also dieser Prüfung, stellte sich, weil er es musste und nicht anders konnte. Gekrümmt lag sie da. Wie ein Fötus, sich selbst tröstend, als könnte eine Rückkehr in die fetale Stellung diese Bedrohung abwenden. Sie bekam kaum Luft. Schluckte ihr Blut, schmeckte den metallischen Geschmack auf der Zunge. Fette Fliegen, Stallfliegen, die durch den Kot der Nutztiere immer reichlich vorhanden waren, krabbelten über ihr aufgeschwollenes Gesicht, brachten es aber nicht zustande, sie von ihrer Konzentration auf dieses stumme, empörte Aufschreien abzulenken. Es war der ächzende, keiner bestimmtbaren Region und zugehörige Ruf des Schmerzes. Der unbarmherziger, ein alles fordernder Schrei. Das Kennenlernen der Grenzen. Irgendwann, Zeit hatte ihre Bedeutung verloren, hatte die Wichtigkeit eingebüßt, die sowieso nur eine Illusion war. Resi spürte etwas Nasses, etwas Kaltes an ihren Lippen und das kleine Mädchen zuckte sogleich zurück. Ihre aufgeplatzte Lippe brannte wie Feuer bei Kontakt mit der eindringlich riechenden Flüssigkeit. Kurz darauf nahm sie ein seitliches Hinablaufen wahr. Die Flüssigkeit legte eine feuchte Spur, vermischte sich mit dem nun gestockten Blut und sammelte sich dann als Pfütze unter ihrer am Boden liegenden Wange. Die Mundhöhle begrüßte jedoch die Umspülung, begrüßte das Kühle und Resi schluckte, dem Reflex gehorchend. Zuerst verkrampft und gezwungenermaßen. Doch am Schluss gierig, nach mehr fordernd. Eine angenehme Leichtigkeit, eine wohltuende Wärme breitete sich alsbald aus, nahm von ihr Besitz und brachte die Schmerzen etwas zum Abklingen. Deshalb leckte sie sich fordernder über die Lippen. Resi wollte mehr und diese Bitte wurde ihr auch gewährt. Das Trinken und das Schlucken beschäftigte sie eine gefühlte Ewigkeit, eine herrliche, kleine Ewigkeit - nie enden wollend, diese erlösende Unendlichkeit, denn sie brachte ihr das Geschenk der bittersüßen Besinnungslosigkeit. Es war eine Erfahrung, die sie niemals mehr vergessen sollte und dem sie ihre spätere Alkoholabhängigkeit verdanken sollte.

Oma Gertrud will sich nun auch einen Schluck gönnen. Sie erhebt sich schwerfällig aus dem Schaukelstuhl, ihre selbst gehäkelte Decke dabei achtlos beiseite schiebend und geht mit unsicherem Gang zu einer pompös aussehenden Karaffe. Dann schenkt sie sich in einem kleinen Glas etwas von dem goldgelben Getränk ein und trinkt es in einem Zug leer. Mit Tränen in den Augen, Tränen die von der Schärfe des Alkohols stammen, bewegt sich die alte Frau danach wieder auf den Stuhl zu. Sie zögert dabei die Ankunft hinaus, geht langsamer als sie müsste. Denn sie will etwas Zeit gewinnen. Die Greisin braucht Zeit, um sich den weiteren Verlauf der Geschichte vorab ins Gedächtnis zu rufen. Auch wenn sie ihr bestens bekannt ist, ihre grauen Zellen sind der Erosion des Alters unterlegen und benötigen eine Auffrischung.

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Beitragvon Resi » Mo 25. Jul 2011, 20:40

Die Erinnerung:

Langsam bewegt sich die alte Frau auf den Stuhl zu und ist dabei ganz in Gedanken versunken. Oma Gertrud macht es nichts aus, alt zu sein. Sie akzeptiert den Kreislauf der Natur und lamentiert nicht über unverrückbare Tatsachen. Stattdessen versucht sie sich den Gegebenheiten anzupassen, sich zu arrangieren und genau das ist auch der Grund, warum sie so lange für die paar Schritte braucht. Sie stellt sich den weiteren Verlauf der Geschichte vor, sieht dabei die Personen förmlich vor sich stehen, lässt sie agieren. Als sie ihr angesteuertes Ziel erreicht hat, setzt sich die Greisin wieder, zieht die Decke fast bis zu ihrem Kinn hoch und spricht zu den Kindern:

Resi krabbelte zu der Stelle an der das Hündchen starb. Im Stall war es früh morgens noch stockdunkel. Man konnte kaum etwas erkennen aber das war auch nicht wichtig. Sie musste nichts sehen um trotzdem sehen zu können. Resi fand das bestimmte Stück Holzwand mühelos und tastete vorsichtig mit ihren Fingern darüber. Es war nur totes Holz, kalte Materie und doch steckte es für das kleine Mädchen voller Leben. Sie wusste nicht, dass es sich nur den äußeren Gegebenheiten anpasste und reagierte - sich je nachdem, welche Witterung gerade vorherrschte, zusammenzog oder ausdehnte. Für Resi war es mehr als lebendig. Sie hörte doch Nachts, wenn alles ruhig war, sein Wehklagen, hörte das schauderhafte Ächzen, sein Aufstöhnen und verkroch sich dann immer ängstlich, so tief sie konnte, im Heu. Dabei beobachtete sie, von einem krankhaften Zwang getrieben, mit Schrecken die kaum sichtbaren, grotesken Schattengebilde, die in ihrer Phantasie zu riesigen, furchteinflößenden Bestien heranwuchsen und nach ihr zu greifen versuchten. Doch jetzt blieb das Holz still. Es war seit dem Vorfall verstummt. Seine jammernden Rufe waren verhallt. Es hatte fast den Anschein, als ob es gesättigt sei, satt und zufrieden vom Blut des Hundebabys und seinem Leid. Etwas zögerlich legte Resi die rechte Wange auf die ungefähre Stelle, an dem des Hundebabys kleiner Körper aufprallte. Das tat sie in letzter Zeit oft. Sie wusste nicht einmal warum. Es fühlte sich nur richtig und gut an. So verharrte sie jetzt auch, verharrte einer Statue gleich, presste ihren Kopf an die Wand. Es war wie eine Art Liebeserklärung, es glich einer Geste des Andenkens. Dann kam wieder die Erinnerung, sie überfluteten Resi und Resi gab sich dieser Flut hin, ließ es zu. Sie war sowieso machtlos, konnte sich vor diesem Tsunami nicht retten. Hilflos trieb sie in diesen haushohen Wellen dahin und hoffte zugleich, dass ihre labile Seele sich dabei nicht an den scharfkantigen Klippen schneidet, sie nicht ertrinkt und zugrunde geht.

Plötzlich verändert sich die Stimmlage der gebrechlichen Greisin Gertrud und nimmt filigrane, kindliche Züge an:

Eine scheinbare Ewigkeit liege ich im Heu, mehr tot als lebend, bevor das schmerzhafte Erwachen kommt. Zuerst wage ich es nicht, mich zu bewegen und tue es dann widerwillig doch. Zu allem Übel habe ich nun nämlich den Drang mich übergeben zu müssen und dieser Drang wird stärker, nimmt überhand und so hebe ich den Kopf etwas an und lasse es geschehen, lasse den Schwall, der aussieht wie die erkaltete Gerstensuppe vom Vortag, aus mir herausströmen, befreie meinen Körper vom Alkohol, dabei von Krämpfen geschüttelt. Danach versuche ich aufzustehen. Mir ist schwindelig und ich bekomme kaum Luft. Doch nun will ich nicht mehr liegen bleiben. Mir gelingt das Aufstehen, trotz mehrmaligen Versuchens aber nicht. Deshalb ziehe ich mich mühsam in die Nähe der Stalltiere. Ich schreie, brülle vor Schmerzen, als ich mich an der Absperrung, diesen Querverstrebungen hochziehe und empfinde dann, als ich es endlich geschafft habe, so etwas Ähnliches wie Stolz. Ich stehe wieder auf meinen Füßen, ich habe mir etwas Würde zurückgeholt! Hasse ich den Bauern? Ja und wie! Liebe ich meinen Ziehvater? Ja, ich liebe ihn. So paradox und ambivalent das auch klingt. Ich sehne mich nach seiner Liebe, nach einer zärtlichen Geste. Mein Innerstes drängt und verlangte danach. So wie es einen Dürstenden auch zum Wasser zieht. Bin ich der Überzeugung, dass ich diese Behandlung verdiene? Ich bin felsenfest davon überzeugt! Ich kann nicht glauben, dass es nur die Schuld des Mannes ist. Ich weigere mich zu glauben, dass ich es nicht provoziere. Deshalb suche ich den Grund bei mir, schiebe mir den schwarzen Peter zu. Denn ihm die Verantwortung und Schuld zu überlassen, würde bedeuten, dass mein wackeliges Fundament, mein empfindliches, seelisches Grundgerüst, komplett und endgültig zum Einsturz gebracht werden würde und das darf nicht geschehen. Nein, auf keinen Fall!

Ich blicke mich um, ich bin ganz alleine im Stall. Abgesehen von den Haustieren. Wie gern würde ich jetzt tröstende Worte, eine liebevolle Umarmung an meinen schmerzenden Körper spüren. Wie gern würde ich die Worte hören: Alles wird gut! Doch diese Selbstverständlichkeit, jene Normalität bleibt mir verwehrt und so schluchzte ich, weine ich bittere Tränen der Wut, der Hilflosigkeit und der Traurigkeit. Es gibt keine Liebe und Geborgenheit für mich. Das wird mir in diesem Moment zum ersten Mal schmerzlich bewusst. Niemand scherte sich um mich, niemand kümmerte sich um mich. Ich bin unwichtig, nichts wert und genauso fühlte ich mich auch: Wertlos, schmutzig, schlecht und selbst schuld. Hätte ich den Hund nicht an mich genommen, hätte ich nicht die Hand gegen ihn erhoben, dann wäre das alles nicht geschehen. Ich habe es verdient, mehr als verdient. Es geschieht mir ganz recht. Mein Anflug von Stolz, diese Karikatur von Würde, die mich vorher noch beflügelt hat, verschwindet und zerplatzt wie eine Seifenblase. Ich falle auf die Knie, demütig und unterwürfig, reibe dabei die Hände an meinen Rock und schließe die verquollenen Augen. Ich beginne lautlos ein Gebet zu sprechen, bitte Gott um Verzeihung. Ich bitte ihn um Vergebung für meine Sünden. Ich flehe, fordere, alles zugleich. Ich will von meiner großen Schuld rein gewaschen werden, will begnadigt werden. Ich bin der Meinung, bin in dem Irrglauben gefangen, dass ich Blut an den Händen habe. Ich sehe dieses Blut, das Hundeblut im Geiste an meinen Händen kleben. Egal, wie schlecht es mir gerade selbst ergeht, egal wie intensiv ich mich auf das Beten konzentrierte und wie oft ich an dem Rock reibe, es verschwindet nicht, bleibt haften, einem grausamen Mahnmal gleich.

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Beitragvon Resi » Mo 25. Jul 2011, 20:42

Verzweifelt öffne ich wieder die zugeschwollenen Augen und erblicke eine Flasche. Sie ist halbleer. Der Inhalt der Flasche ist bräunlich, funkelt neckisch im Licht das durch die Ritzen der maroden Hütte fällt und die Flüssigkeit beinahe magisch wirken lässt. Andächtig greife ich danach und öffne den Verschluss der schlichten Flasche. Dieser Geruch, dieser Duft, den ich vor meiner gnädigen Bewusstlosigkeit gerochen habe, der mich sofort an Erlösung denken lässt und der mich lockt, mir still zuraunt: Koste mich! Er schlägt mir entgegen, liebkost meine Nase, kitzelt die Rezeptoren und ich trinke davon, erliege der Verführung. Das ist von nun an mein Gott, ihm werde ich ab jetzt huldigen. Der Alkohol ist barmherzig, lässt mich vergessen. Ich kneife die Augen zu, es schmeckt nicht gut aber das macht nichts, macht mir nichts aus. Ich trinke, bis ich das Fegefeuer in mir nicht mehr spüren kann. Ich trinke, bis ich keine Schuldgefühle mehr habe.

Ich ziehe an der Stalltür und trete ins Freie. Dabei halte ich die Flasche in meiner Hand, meine kleinen Finger sind fest um den Hals gekrallt. Die grelle Nachmittagssonne blendet mich etwas und daher drehe ich mich schwerfällig um, dabei fast zu Boden stürzend. Ungewollt schaue ich mit meinen trüben, vom Alkohol verschleierten Blick, auf den Stall und werde bleich, leichenblass. Ungläubig reibe ich mir mehrmals über die Augen. Das kann nicht die Wirklichkeit sein, das kann es nicht geben! Denn der Stall bewegt sich, bewegt sich in diesem Moment wahrhaftig. Er kommt näher, immer näher. Die soeben erst geöffnete Tür, dieser harmlos anmutende Durchgang, hat sich in ein geiferndes, zähnefletschendes Maul verwandelt und zwar in eines, das hungrig ist, das Fressen möchte - in ein bezahntes, schnappendes Loch. Der Stall lebt, atmet, ist gefährlich lebendig geworden und hat nur eines im Sinn: Mich in die Schwärze, in die Dunkelheit des Mauls zu zerren, mich zu verschlingen, mich zu töten. Mein alkoholbenebelter Geist, das schnapsverseuchte Gehirn, gaukelt mir alles nur vor. Doch das spielt keine Rolle, hat keinerlei Bedeutung und ist irrelevant. Ich empfinde bei diesem surrealistischen Vorfall, dieser unwirklichen Bedrohung, reine und unverfälschte Angst, Todesangst. Und so unglaublich das nun klingt: Nicht einmal mein Ziehvater hat das bisher zustande gebracht, nicht einmal er war fähig, mich in eine solche emotionale Intensität zu treiben. Der Anblick des Monsters, dieses gefräßige Ungeheuer, treibt mir einen kalten Schauer über den Rücken, verursacht ein unangenehmes Frösteln, trotz der Gluthitze die gerade vorherrscht. Panisch, vom purem Grauen ergriffen und von Furcht besessen, mache ich stumm schreiend, zwei Schritte rückwärts und strauchle. Die Flasche dabei, wie schon die ganze Zeit über, weiter festhaltend, als könnte mir das Glas Sicherheit spenden, mich vor dem Sturz bewahren oder sie zumindest auffangen. Der Schmerz des Aufpralls, sowie der Schmerz der vorangegangen Misshandlung, lassen meinen stummen Schrei in einen Hörbaren übergehen und bringt mich auch wieder zur Besinnung. Denn zu meiner großen Erleichterung bin ich nun wieder in der Realität, erkenne ich die Wirklichkeit. Ich sehe noch einmal hin, sehe mir aus der fast liegende Position heraus und mit blutunterlaufenen, betrunkenen Augen, die Sachlage an. Der Stall ist wieder nur ein Bretterverschlag, eine eilig zusammen gezimmerte Hütte und die Türöffnung bloß der Eingang und nichts weiter. Ich bin wieder in meiner gewalttätige Normalität zurückgekehrt. Mein einziges Zuhause ist nicht mehr lebendig. Der Stall, jene erbärmliche Unterkunft, strahlt für mich wieder diese scheinbare Sicherheit aus, einem Nestschutz gleich. Nichts kann daran etwas ändern: Keine grauenvollen Bilder, keine schrecklichen Geschehnisse und auch keine schmerzlichen Erinnerungen. Denn ich habe im Grunde genommen keine andere Wahl. Mir bleibt nichts anderes übrig, als sich verzweifelt an diese morbide Geborgenheit zu binden. Ohne diesen rettenden Anker, ohne dieses Fangnetz, würde ich hilflos davon triften, würde ich komplett ins Strudeln geraten, würde in diesem trüben Gewässer, dass sich Leben schimpft, untergehen.

Ich nehme wieder einen Schluck, danach wieder einen und wieder einen. Ich erhebe mich kurz darauf mühsam und fühle mich, dank dieser Flüssigkeit, nun fast wieder unbeschwert, wie auf einer Wolke schwebend. Der Boden schwankt, die Bäume drehen sich um die eigene Achse. Das eben Erlebte ist vergessen, erfolgreich verdrängt. Ich überhöre sogar das Kommen der dicken Bauersfrau, überhöre ihr Rufen und erwache erst aus meiner perfiden Konzentration, als sie mich unsanft schüttelt, als sie mich mit zwei Ohrfeigen in die nüchtere Seinebene zurück holt. "Warum bist du nicht im Stall?", brüllt die Frau mich an. "Gib mir die Flasche wieder zurück!" Die Unförmige schaut sich dabei hektisch um, als würde sie beobachtet werden. Sie hat wohl auch angst, genau wie ich sie vorhin hatte und fürchtet sich vor einem Monster. Allerdings einem Ungeheuer in Menschengestalt. Dann reißt die dicke Frau die Flasche zornig an sich, drückt sie kurz an ihren Busen, als wäre sie ein Schatz von größtem Wert. Völlig außer sich vom erzwungenem Respekt und einer demütigen Unterwürfigkeit gebeutelt, schreit sie mit zittriger Stimme, den Blick gen Haupthaus gewandt: "Warum hab ich sie nicht elendig krepieren, verrecken lassen? Warum… warum nicht?" Die Bauersfrau trinkt den letzten Rest aus der Flasche und schmeißt die nun endgültig geleerte Flasche in hohem Bogen von sich. Verächtlich und verletzend, sich ihrer Wortwahl vollkommen bewusst, sieht sie mir in die Augen und flüsterte mir zu: "Ich hätte dich nicht aus deiner Mutter rausholen sollen. Du bist mir vom ersten Tag an nur eine große Last gewesen! Unnötig wie ein Schmarotzer und genauso lästig. Ich bereue, oh… wie ich bereue!" Ich bin zum Glück viel zu betrunken, um sie zu verstehen. Danach packt sie mich an den Schultern, dreht mich um und stößt mich in den Stall zurück, hinein in meinen persönlichen Albtraum, hinein in diese spezielle Geborgenheit, in meine ganze Welt.

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Beitragvon Resi » Mo 25. Jul 2011, 20:43

KAPITEL III

Der Entschluss:

Die Greisin reibt sich über die Stirn. Der Alkohol hat ihr nicht gut getan. Sie spürt ein Klopfen in ihrer linken Kopfhälfte. Lächelnd darum bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, bittet sie die Kinder einen Moment um Geduld. Ihre Enkel gewähren ihr diesen Moment auch und zwar ohne Protestschreie, ohne die übliche Bettelei. Ein kurzes Weilchen später beendet sie die Kopfmassage, der Schmerz hat nachgelassen und ist nun wieder auszuhalten. Zufrieden lehnt sich Gertrud in den Stuhl zurück und beginnt zu schaukeln. Die alte Frau verursacht dabei eine knarrende, rhythmische Melodie. Es ist ein leicht gespenstisch anmutender Klang. Doch in diesem Rahmen verursacht die eigentümliche Melodie keine Gänsehaut. Die Greisin hat eine Hand auf die Seitenlehne des Schaukelstuhls gelegt und erfühlt unbewusst die Einkerbungen und Unregelmäßigkeiten des massiven Holzes. Oma Gertrud atmet einmal kräftig durch und schaut forschend in die Gesichter ihrer Lieben. Sie sucht nach Anzeichen von Müdigkeit und kann nichts dergleichen entdecken. Denn die alte Frau bemerkt kein heimliches Augenreiben, kein unterdrücktes Gähnen. Die Kinder sind noch nicht müde und noch Aufnahmebereit genug. Die Greisin seufzt kaum merkbar auf und gähnt plötzlich selbst. Sie ist müde, nicht die Kinder. Oma Gertruds Blick richtet sich auf die Stufen. Sie führen ins obere Stockwerk. Dort ist ihr Schlafgemach, da steht ihr Bett. Ein kurzes, verträumtes Lächeln ist nun zu sehen, denn sie erinnert sich. Dieses Bett birgt viele Erlebnisse, könnte selbst aufregende Geschichten erzählen. Die alte Frau teilte es fast vier Jahrzehnte mit einem Mann, ihrem Ehemann. Er war ein anständiger, liebevoller Mensch und Oma Gertrud vermisst ihn sehr. Dann schüttelt sie die schönen und zugleich melancholischen Gedankengänge je ab. Diese Stufen, genau elf hohe an der Zahl, sind für die Greisin kaum mehr zu bewältigen und deshalb bleibt sie jetzt auch lieber sitzen und erzählt mit normaler Stimme weiter:

Resi wurde von der Bauersfrau zurück in den Stall befördert und genau das gleiche passierte auch mit ihr, ihrer Erinnerung. Das Geschehene war geschehen, war vom Strom der Zeit weggespült worden, nur noch für das kleine Mädchen von Bedeutung. Sie saß im Dunklen des frühen Morgens, die Augen offen, zu Boden blickend, dabei die Wange an die Holzwand gepresst. Die körperlichen Wunden waren verheilt, dafür waren frische, wie eben der blaue Fleck in der Rippengegend, hinzugekommen. Doch viel schlimmer als all diese vergänglichen Verletzungen, schmerzte die dauerhafte, seelische Verstümmelung. Ihr Potenzial, diese ungewisse Möglichkeit, die jeder in sich trägt und die nur darauf wartet, sich entfalten zu können und zu dürfen, war niedergeknüppelt worden. Nein, war nicht bloß vorübergehend am Wachsen behindert, sondern war in tausend winzig kleine Stücke zerfetzt worden, einem Puzzle gleich und zwar eines, das nicht erschaffen worden war, um sich wieder als Ganzes zusammenfügen zu lassen. Resi war geistig erschöpft. Das erneute Erleben hatte an ihr gezerrt, hatte sie gebeutelt. Um sich zu erleichtern, um diese eigenartige Spannung los zu werden, scharrte sie mit ihren Fingernägel. Wie eine Katze, die ihre Krallen schärft, fuhr sie an der Seitenwand des Stalls entlang und hörte zu. Das Mädchen lauschte, war fasziniert von den dumpfen Tönen, die dabei entstanden. Es war ein schmerzhaftes Klangerlebnis doch diese Hässlichkeit reflektierte in diesem Moment ihren Seelenzustand perfekt wider. Keine Worte, nichts dergleichen, außer eben das Verursachte, hätte zutreffender, hätte übereinstimmender sein können und deshalb scharrte sie immer heftiger, beendete die Stille des Holzes, ließ es an ihrer Stelle aufschreien. Sie kratzte, trotz der Schiefer, trotz der Feuchtigkeit, es war eine rote Feuchtigkeit, ihr Blut. Während das kleine Mädchen so da saß und wie hypnotisiert zuhörte, kam ihr etwas Abwegiges in den Sinn, etwas so Absurdes, dass sie den Kopf von der Wand löste und diesen wild verneinend schüttelte. Es war ein dürftiger Versuch diese Idee von sich zu weisen, abzuschütteln. Denn dieser Gedanke, der Geistesblitz elektrisierte sie, brachte eine ungewohnte Energiequelle in ihre Glieder, ließ sie aufgeregt zappeln. Zwiespältig waren ihre Gefühle. Schon allein daran zu denken, glich einem schweren Vergehen aber sie konnte nicht anders. Die Aussicht auf einen Ausweg, diese irrwitzige Aufregung, hielt sie in ihren Bann, sorgte dafür, dass sie diesen dünnen Hoffnungsfaden weiter spann und sich hilflos darin verwickelte.

Bald würde die Erntezeit kommen und in dieser Zeit wurde jede Arbeitskraft gebraucht. Selbst Resi war unabkömmlich. Ihr Ziehvater, der im Umgang mit Gold mehr als zurückhaltend war, der das Zahlungsmittel wie einen Gott verehrte und sich dementsprechend sträubte es auszugeben, stellte jedes Jahr jemanden ein. Und zwar eine Hilfskraft, die gezwungen war ein Nomadenleben zu führen, eine die immer auf der Suche nach Arbeit war und nie lange an einem Ort verweilte. Den Großteil entlöhnte der Bauer in Naturalien und verrechnete auch, falls derjenige sich auf diesen unfairen Handel einließ, die mickrige Verpflegung, sowie das Schlafen dürfen auf seinem Grund und Boden. Trotzdem musste sich der Hausherr immer von einigen Munzen trennen und diese Tatsache ließ ihn wochelang fluchen und ließ ihn schlecht gelaunt sein. "Genau das ist der richtige Zeitpunkt!", sprach das kleine Mädchen lautlos zu sich selbst und beendete zugleich die kratzende Perversion ihres inneres Zustands. Der hörbare Schmerz hatte ihr kurzfristig Erleichterung verschafft, hatte eine seelische Entspannung hervorgerufen. Es war ein Ventil, das sie sich gewünscht, das sie gebraucht hatte und jetzt war wieder Platz für andere Empfindungen. Anstatt zu scharren, ballte sie dieselbe Hand zu einer Faust, ließ sie erzittern, einer Drohung gleich. Langsam stand Resi auf, stand nun auf den dünnen, barfüßigen Beinchen. Genau wie ihr Entschluss nun auch feststand. Sie hatte sich entschieden. Alle Bedenken: Die Angst, die Ehrfurcht, der Respekt vor den Zieheltern war beiseite gedrängt. Wut hatte sich ihrer bemächtigt, übermalte die Scheu, die Verschüchterung. Diese Gefühle ließen keine Opferhaltung mehr zu, drängten sie zu handeln, sich zur Wehr zu setzen. "Schon bald… ja, bald ist es soweit!" Die Arme von sich gestreckt, näherte sie sich langsam wieder ihrem Schlafplatz und vergrub dann ihren Körper im Heu. Bevor das Mädchen einschlief flüsterte sie noch leise: "Aber jetzt muss ich etwas Schlaf finden, ein anstrengender Tag steht bevor!"

Oma Gertrud schielt abermals auf die Treppe. Sie ringt mit sich selbst. Soll sie die Kinder ins Bett schicken, damit sie sich ausruhen, ihr müdes Haupt betten kann? Unentschlossen gähnt sie noch einmal. Dann fällt ihr ein, wie sie ihre Enkel schonend auf das baldige Ende vorbereiten kann. Sie fordert ein Kind auf, den Ziegel in den Ofen zu schieben, damit dieser ans Bettende gelegt und ihre immerzu kalten Füße wärmen kann. Äußerst zufrieden mit dieser Lösung, ignoriert sie das protestierende Raunen und lächelt in die Runde.


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