Das Mädchen in der Bettelgasse
Es war einmal ein Mädchen. Einst hatte es in Thalheim in einem großen Haus gelebt, hatte alles, was ihr Herz begehrte und sogar noch viel mehr. Schöne Kleider, ein warmes Bett, gutes Essen, Diener, die ihr jeden Wunsch von den Augen ablasen, Schmuck, teure Spielsache und ein riesiges Zimmer. Ihr Vater war ein reicher Kaufmann, der sich von einem armen Bettler hochgearbeitet hatte. Dieser gab seiner Tochter alles, was sie wollte, weil er sie so sehr liebte und weil er selbst die Armut erfahren hatte. Auch die Spielkameraden bezahlte er, damit das Mädchen Freunde hatte. Schließlich musste er Schulden machen, um die immer größer werdenden Wünsche seiner Tochter zu erfüllen. Doch nichts genügte ihr, sie wurde selbstsüchtig und gierig, wollte immer mehr und mehr. Und er gab ihr immer mehr und mehr.
Da wurde ihr Vater krank und starb. So musste das Mädchen aus dem großen Haus ausziehen, alles abgeben, was sie hatte, die Dienerschaft verließ sie, weil diese kein Geld mehr bekamen und auch ihre Freunde gingen, denn sie waren ja gar keine wirklichen Freunde, nur bezahlte Angestellte. Und plötzlich war sie allein in der Welt des Wyrm, hatte nur ihr Kleid am Leib. Bloß eine dünne Decke durfte sie mitnehmen, denn es war bereits Winter. Und es wurde Nacht und es war kalt draußen und düstere Gestalten zogen durch diese Nacht und das Mädchen hatte Angst, verkroch sich in ihre Decke gehüllt in die hinterste Ecke der Bettelgasse, in der auch einst ihr Vater saß.
Auf einmal kroch ein alter Mann zu ihr, dieser hatte keine Zähne mehr, ihm fehlte ein Bein und sein Gesicht war voller Falten. Außerdem hatte er nur ein kurzes Hemd an, ihm muss furchtbar kalt gewesen sein. „Diesem geht es auf jeden Fall schlechter als mir“, dachte sich das Mädchen. Und der alte Mann fragte, ob er ihre Decke haben könne, ihm sei so kalt. Dafür würde er ihr ein Stückchen Brot geben. Und da sie furchtbaren Hunger hatte und ja noch ein Kleid am Leib, was der alte Mann nicht hatte, gab sie ihm die Decke und nahm das Brot. Der alte Mann wickelte sich in die Decke und schlief ein. Und das Mädchen hatte ein merkwürdiges Gefühl im Bauch, doch das kam nicht von der Kälte.
Sie hatte gerade begonnen, an dem Stück Brot zu kauen, da kam ein kleiner Junge auf sie zu und dieser war ganz dünn und klapperig und sein Bauchknurren war schon von weitem zu hören. Und dieser Junge bekam ganz große Augen, als er das Brot sah, sagte aber nichts. Er stand einfach so da und man sah den Hunger, den er hatte. Da dachte sich das Mädchen: „Diesem geht es auf jedem Fall schlechter als mir.“ Und sie schenkte dem Jungen das Brot, der es auch gleich nahm und hinein biss.
Doch sollte es nicht umsonst sein, denn als Tausch gab der Junge ihr einen Stein. Das Mädchen sah auf den Stein hinab und fragte sich, was es damit denn anfangen solle. Es ging etwas weiter, die Bettelgasse hinunter und fand eine Frau, die ganz verzweifelt schien, denn sie suchte auf dem Boden herum. Neben der Frau war ein kleiner Holzhaufen geschichtet. Doch die Frau war blind, konnte nicht mehr sehen und musste mit den Händen tasten. Die Frau rief: „Mir ist so kalt, so kalt, ich habe Holz, aber keinen Feuerstein. Ach, hätte ich doch nur einen Feuerstein!“ Da dachte sich das Mädchen: „Dieser geht es auf jeden Fall schlechter als mir!“ Und das Mädchen sah auf ihre Hand hinab und sah, dass der Stein ein Feuerstein war. Und sie gab den Feuerstein der Frau, die gleich darauf mit diesem ein Feuer entfachte. Doch auch das sollte nicht umsonst sein, denn die Frau lud das Mädchen ein, an ihrem Feuer zu sitzen. Und so wurde dem Mädchen warm, dort am Feuer und es hatte Gesellschaft und ein merkwürdiges Gefühl im Bauch.
Da kam eine Frau, die hatte nur noch ein ganz dünnes Hemd an und musste ganz bitterlich frieren. Und sie sagte, sie muss dringend zu ihrer Mutter, die krank sei und könne nicht an dem Feuer sitzen, um sich zu wärmen. Da dachte sich das Mädchen, das ja ein Kleid anhatte: „Dieser geht es auf jeden Fall schlechter als mir!“ und schenkte der Frau ihr Kleid. Jetzt hatte das Mädchen nur noch ein Hemd an, aber sie saß ja am Feuer und hatte Gesellschaft. Doch auch das sollte nicht umsonst sein, denn die Frau gab dem Mädchen für das Kleid einen Kamm und bedankte sich und dieses ‚Danke‘ war von Herzen und wieder hatte das Mädchen ein merkwürdiges Gefühl im Bauch.
Aber irgendwann ging das Feuer aus und die blinde Frau war eingeschlafen und jetzt hatte das Mädchen nichts mehr, nur noch ein Hemd am Leib und einen Kamm. Es könnte sich zwar die Haare kämmen und sähe schön aus, doch das würde sie nicht wärmen und auch nicht ihren Magen füllen. Und das Mädchen weinte bitterlich, was sie denn jetzt nur tun solle. Ihm fror, es hatte Hunger und keine Freunde. Und es fühlte sich sehr einsam und verlassen auf der Welt.
Doch der Mond Lurani und die Sterne am Himmel hatten gesehen, wie gut das Mädchen geworden war, wie selbstlos es den anderen ihre Decke, das Brot, den Stein und ihr Kleid gegeben hatte. Und sie hatten auch das merkwürdige Gefühl im Bauch des Mädchens wahrgenommen, was Freude über die Freude anderer war. Und der Mond und die Sterne sorgten dafür, dass der Kamm sich in Edelsteine verwandelte und das Mädchen konnte mit diesem wertvollen Schatz ein Haus und Essen kaufen. Und sie baute das Haus in der Bettelgasse und gab das Essen den Bewohnern der Gasse und hat sich fortan um die Armen gekümmert, dass diese immer etwas zu Essen und ein warmes Dach über dem Kopf haben sollten. Und nie wieder wollte sie reich sein, sie gab alles, was sie hatte den Armen und dafür war ihr Haus immer voll, sie hatte viele Freunde und niemals mehr war sie einsam.