Das Alltägliche:
Die Greisin beobachtet einen Enkel wie er die Ofentür aufklappt und nickt zufrieden. Oma Gertrud hat den Kindern schon früh und mit streng erhobenem Zeigefinger beigebracht - was sonst gar nicht ihre Art ist - die Urgewalt des Feuers, seinen Hunger und wildes Eigenleben zu respektieren und sich dementsprechend zu verhalten. Belustigt sieht sie den Bemühungen zu, wie der Junge den Ziegel auf die verrußte Schaufel balanciert und den Ziegelstein unbeholfen in Richtung geöffnete Ofentür schiebt. Dann schließt er mit einem lauten Knall die Klappe. Sobald der Enkel wieder auf seinen Platz sitzt und Oma Gertrud ihren Dank ausgesprochen hat, erzählt sie die Geschichte weiter:
Resi schlief äußerst unruhig. Das Traumgeschehen ließ ihren Körper von einer Seite zur anderen wälzen, sorgte dafür, dass ihre Arme manchmal in die Höhe schnellten, verursachte mehrmaliges Aufschluchzen, war für die unzusammenhängenden Wortfetzen verantwortlich. Das Mädchen folgte einem Drehbuch, ihrem Drehbuch. Jeder von uns ist im Besitz eines solchen Buches und sobald man in den Schlaf gleitet, wird es umgeschrieben oder gänzlich neu verfasst. Diese Aufgabe erledigt man selbst, man ist der Schriftsteller, übernimmt auch, damit die Uraufführung stattfindet, damit es zur Premiere kommen kann, die Regie und verpflichtet sich als Hauptdarsteller. Das Endprodukt ist dann ein Schauspiel der Superlative, eine Bilderabfolge der Gefühle, der Ängste, der Hoffnungen und Wünsche, der Erlebnisse. Die gesamte Inszenierung ist ein Wunderwerk der Evolution und hat den Sinn unsere geistige Gesundheit zu erhalten oder das Gleichgewicht, falls verloren, wieder herzustellen. Genau das ist auch der Grund, warum der Schlaf des kleinen Mädchens so unruhig und ausdrucksvoll war. Die Vorkommnisse, die kürzlich stattgefundenen Ereignisse, hatten tiefe Spuren in ihrer Kinderseele hinterlassen. Das Erlebte hatte sich in ihre Psyche förmlich hinein gebrannt und nun musste versucht werden, diese Brandnarben irgendwie zu integrieren, sie als Teil ihrer Selbst anzuerkennen. Denn die Stigmatisierung, die seelische Verbrennung hatte die empfindliche Balance gekippt, die Waagschale, das Maß des Erträglichen war weit in eine gefährliche Richtung ausgeschlagen und jetzt begann die schwierige Arbeit. Das Gleichgewicht, eines, das sowieso schon immer mehr Schein als Sein gewesen war, sollte seinen Ausgangspunkt wieder einnehmen. Das Träumen, ein genialer Mechanismus der Natur, diente diesem Zweck. Die psychische Wundheilung wurde vorangetrieben, die Heilung begann.
Mit einem lauten Schrei erwachte Resi aus diesem Verarbeitungsprozess. Schlaftrunken erhob sie sich sogleich, schüttelte den Albtraum ab, ebenso das Heu, welches ihr als Decke gedient hatte. Das Morgenrot war schon zu sehen. Die Vögel zwitscherten und flogen aufgeregt umher, wollten keine Zeit verlieren, waren begierig darauf bedacht ihr Tagewerk in Angriff zu nehmen und auch sie musste sich sputen. Die Arbeit verrichtete sich schließlich nicht von selbst. Schnell ergriff sie die zwei, in einer Ecke stehenden, verbeulten Kübel und machte sich daran, die Kuh und die Ziegen zu melken. Es waren Routinehandgriffe, sie musste sich auf ihr Tun nicht konzentrieren, deshalb konnte sie noch einmal über ihren Plan nachdenken. Resi wog Für und Wider ab, erstellte im Geiste eine Plus- und Minusrechnung und befand letztendlich, dass sie sich für den richtigen Weg entschieden hatte. Auch wenn ihr Vorhaben alles andere als ein Spaziergang werden würde. Lächelnd, es war ein verzerrtes, falsches Lächeln, es wollte so gar nicht in das Kindergesicht passen, stellte sie die mittlerweile mit Milch gefüllten Eimer nach draußen. Als sie kurz darauf die Mistgabel zur Hand nahm, begann Resi eine frei erfundene Melodie zu summen. Die Klänge waren einfach nur schrecklich, die Intonation war fürchterlich, grauenhaft, als versuche sich ein Geisteskranker am Komponieren. Doch diese Töne waren nur Produkt, wurden nur von einer Neunjährigen erzeugt. Voller Elan, einer Tatkraft die leicht beängstigend war, schwang sie die Gabel. Dieses gesamte Verhalten war Ausdruck einer grimmigen Entschlossenheit. Sie hatte ein Ziel vor Augen, hatte einen Plan, einen der auf seine Erfüllung pochte. Das Mädchen beschloss, zwang sich selbst, diese Inbrunst, diesen Abklatsch von Zuversicht den sie empfand, zu genießen. Sie, der Nichtsnutz, hatte ihn sich ersonnen, hatte den Plan selbst ausgeheckt. Wenn sie auch sonst zu nichts zu gebrauchen war, außer vielleicht als Fußabtreter, diese Genugtuung wollte sie sich nicht nehmen lassen. Sie wollte diese Gefühle auskosten und tat das auch, mit einer Verbissenheit, die ihresgleichen suchte. Resi lockerte, durchlüftete das Heu und beseitigte anschließend den verstreuten Kot, häufte ihn in eine Ecke, damit er später zu Felde getragen, als Dünger dienen konnte. Anschließend fütterte sie die Tiere und als sie beim Eier einsammeln war, wurde sie unsanft auf ein Grundbedürfnis hingewiesen und verstummte, beendete die gänsehautverursachende Komposition. Sie hatte Hunger, ihr Magen knurrte lautstark, protestierte anklagend und machte so auf sich aufmerksam, befehligte sie seiner Forderung nach Nahrung nachzukommen. Um dieses unangenehme Gefühl, das krampfartige Zusammenziehen ihrer Verdauungsorgane zu beenden, entnahm sie dem Korb, dem schmutziges Behältnis, welcher nur zum transportieren der Eier diente, eines der Eier und schlug es schnell und routiniert auf. Dann schlürfte das kleine Mädchen den Inhalt leer, leckte mit ihrer Zunge über die kalziumreiche Innenseite der Schale, schleckte es blitzblank aus. Gesättigt trat sie dann vor die Stalltür, die Morgenkühle empfang sie. Resi verschob daraufhin die zwei metallenen Milchkübel, stellte sich mittig dazwischen und hob beide an ihrem Henkel hoch. Etwas gebeugt durch die Last, schritt sie nun langsam, um nichts von dem Inhalt zu verschütten, auf das Bauernhaus zu. Die dünnen, halbkreisförmig gebogenen Henkel schnitten dabei schmerzhaft in ihre Hände, gaben so Zeugnis über ihr Tagewerk ab. Doch sie bemerkte diesen Umstand gar nicht, sie lauschte dem Wind, horchte auf sein eindringliches Säuseln. Resi verstand die lieblich, leicht wehleidig, gesprochenen Worte, diese Windsprache: "Der Zeitpunkt ist nah!" Das Mädchen blieb kurz stehen, gab nickend eine stumme Antwort und begann dann aufs Neue, ihre eigentümliche Melodie zu summen.
Die alte Frau deutet auf den Ofen. Dabei kommt die Erzählung zum Erliegen. Das gleiche Kind von vorhin steht nach diesem Wink abermals auf und entfernt mit Hilfe der Schaufel den Ziegel aus dem heißen Ofen. Der Enkel steigt kurz darauf, beladen mit seiner glühend heißen Fracht, die Treppe hoch und beendet, indem er den Stein unter die Bettdecke schiebt, seinen Auftrag.