KAPITEL I
Die Begegnung:
In einer warmen Stube, auf einem Schaukelstuhl sitzend, ist eine alte, graumelierte Menschenfrau zu sehen. Sie ist umringt von einer Schar Enkelkinder, die zu ihr aufsehen. In den Gesichtern der Kinder ist Liebe zu sehen, Liebe zu dieser Frau und drängende Erwartung. Die alte Frau weiß was nun kommt, was nun kommen muss, gehört dieses allabendliche Ritual doch zu einer ihrer schönsten Angewohnheit und alle wissen um den genauen Ablauf Bescheid. Selbst der Kleinste hat seinen Part, den er nur allzu gern erfüllt. Diese alte Frau, von allen einfach nur Oma Gertrud genannt, blickt in die Runde und räuspert sich dann auffällig lange um die Spannung zu erhöhen, eine Spannung, wie sie nur Kinder empfinden können. Leise fängt sie an zu sprechen: "Welche Geschichte wollt ihr denn heute hören?", ein sanftes Lächeln umspielt ihre Mundwinkel, ein wissendes Lächeln, wohl wissend, welche Antwort sie erhält. Die Kinder antworten ohne Verzögerung im Chor: "Oma Gertrud, bitte erzähl uns die Geschichte von Resi!" Die Greisin spielt ihre Rolle perfekt und schüttelt missbilligend den Kopf: "Seid ihr es nicht müde, immer die Selbe zu hören? Lasst mich euch eine andere Geschichte erzählen!" Alle schreien, wie einem unsichtbaren Drehbuch folgend: "Resi, Resi, Resi...", Oma Gertrud hebt, sich scheinbar ergebend die Hände und beugt sich etwas nach vorne. So weit, wie es ihre morschen Knochen zulassen und sie beginnt dann mit ernster Miene und rauchiger Stimme zu erzählen:
Es war einmal, weit ab von allem was wir menschliche Zivilisation nennen, ein kleines Elfendorf. Dieses Elfendorf bestand aus wenigen Einwohnern. Alle kannten sich, alle liebten sich - mehr oder weniger. In dieser Gemeinschaft passierte eigentlich nie etwas Außergewöhnliches. Sie mussten sich mit den üblichen Alltagsnöten und Alltagsfreuden zufrieden geben. Klatsch und Tratsch war sehr beliebt. Aber hätte man sie darauf angesprochen, wäre dies wohl vehement bestritten worden. So ein banales, elfenunwürdiges Benehmen ziemte sich doch nicht! Nun, eines Tages, keiner weiß genau wann, passierte etwas. Etwas, was harmlos begann und in einer Tragödie enden sollte.
An dieser Stelle hört man Zwischenrufe der Kinder: "Oma, was ist denn eine Tragödie?" Die alte Frau antwortet ausweichend, wie immer an dieser Stelle: "Das werdet ihr noch früh genug erfahren...", und die alte Frau fährt mit der Geschichte fort:
Eines Tages kam in jenes Dorf, das weitab von allem lag, eine abgemagerte Frau. Sie war, trotz ihres erbärmlichen Zustands, schön anzusehen. Für den Geschmack der Elfen dennoch viel zu stämmig, viel zu klein und die runden Ohren wurden schlicht als hässlich kommentiert. Sie stellte sich ängstlich der versammelten Dorfgemeinde als eine Heimatlose vor, namentlich als Franziska und bat flehentlich um Hilfe. Sie war bereit alles zu tun. Die Elfen, ob dieser Bitte schier überrascht, brachten die Frau recht schnell zum Dorfältesten, damit dieser entscheiden konnte, was man nun tun sollte und wie diese Situation am besten zu händeln sei. Dort angekommen, begegneten sie sich zum ersten Mal: Franziska und der Sohn des mächtigsten Dorfbewohners standen sich gegenüber.
Die Enkelkinder, die Oma Gertrud förmlich mit den Augen an den Lippen hängen, atmen hörbar ein. Die alte Frau lehnt sich in ihrem Schaukelstuhl zurück und macht bewusst eine lange Redepause, ihre Augen dabei schließend.
Die Entscheidung:
Nach einiger Zeit, welche für die Kinder eine kleine Unendlichkeit bedeutete, öffnet die alte Frau wieder ihre Augen. Diese lässt sie dann, für einen kurzen Moment nur, auf jeden ihrer Lieben verweilen. Ihre Blicke sprechen dabei Bände: Güte, Vergnügen und pure Lebenslust, trotz ihres fortgeschrittenen Alters, spiegeln sich in diesen wider. Sie streichelt einem Enkel, mit einer erstaunlich wendigen Bewegung kurz durch das zerzauste Haar und beginnt danach leise weiter zu sprechen:
Franziska und der Sohn des mächtigsten Dorfältesten, standen sich gegenüber. Sie schauten sich an. Beide hatten das Gefühl, der Boden unter ihren Füßen würde schwanken und sie jeden Moment verschlingen. Sie standen einfach nur da, ohne ein Wort zu sagen und fühlten doch den Gleichklang ihrer Seelen. Der Dorfälteste unterbrach diesen Augenblick, indem er Franziska unfreundlich und überheblich Fragen stellte. Er wollte wissen, wie sie sich das Leben unter Elfen vorstellte, ob sie glaubte und gewillt war, sich an ihre Bräuche und Sitten anzupassen. Franziska drehte sich, drehte ihr Profil, mitsamt dem ausgemergelten Körper, zu dem furchteinflößenden Elfen und wollte antworten. Sie bekam aber beim besten Willen keinen Ton heraus. Stattdessen errötete sie nur und schaute beschämt zu Boden. Ihre Knie wackelten und ihr Herz spielte verrückt, wollte scheinbar zerspringen. Es ist ein Zustand den alle Verliebten nur zu gut kennen, ein Gefühl des Schreckens und der Schönheit zugleich. Der Dorfälteste wollte sich schon umdrehen und Franziska ihrer Wege schicken, als der Sohn sich in seines Vaters Belange einmischte: "Wir könnten ihre Dienste doch gut gebrauchen, unser Baumhaus benötigt ständig irgendwelche Reparaturen und im Haushalt kann sie sich auch nützlich machen. Ich werde mich um Franziska kümmern, ihr alles zeigen und erklären." Der Vater dachte kurz nach und nickte, legte den Arm um seine Schulter: "Talarion, du bist ab jetzt für sie verantwortlich. Wenn mir Klagen zu Ohren kommen, ziehe ich dich zur Rechenschaft, nicht sie!"
Oma Gertrud bittet ihren Lieblingsenkel ihr eine Decke zu bringen. Ihr alter Körper verträgt die schneidige Kälte des Abends nicht mehr. Die alte Frau weiß, dass ihre Zeit bald kommen wird. Ihr Geist ist zwar hellwach, sprüht voller Energie, aber ihre Hülle ist nun mal der Vergänglichkeit unterworfen, einer Vergänglichkeit, der niemand entgehen kann. Die Greisin nimmt diese Tatsache ohne ein Bedauern hin. Sie hatte ein erfülltes Leben und ja, sie begrüßt ihre Wehwehchen sogar. Sie erinnern sie an ihre Vergangenheit, wenn es auch nicht immer ein einfaches Leben war. Eines der anderen Kinder steht auf und legt Holzscheite nach. Im selben Moment kommt auch Oma Gertruds heimlicher Liebling mit ihrer selbst gehäkelten Decke zurück und legt sie ihr sacht um den zerbrechlichen Körper. Die beiden Kinder setzen sich kurz darauf wieder an ihren Platz. Danach ist nur das Knistern des Kaminfeuers zu hören und das knarrende Geräusch des Schaukelstuhls. Oma Gertrud hustet, legt die mit Altersflecken bedeckten Hände in den Schoß und erzählt weiter:
Talarion und Franziska verbrachten viel Zeit miteinander. Die menschliche, junge Frau blühte unter seiner Fittich auf, lebte sich gut ein und wurde trotzdem von der Elfengemeinschaft nicht als gleichwertig betrachtet. Franziskas Verliebtheit in den jungen Elfen wandelt sich in eine innige, tiefe Liebe. Vielleicht war dieses Gefühl auch nur trügerisch, entsprach nicht der Wahrheit. Vielleicht klammerte sie sich an den einzigen Dorfbewohner, der sie wirklich gut behandelte. Was immer sie gefühlt haben mag, die Dinge nahmen ihren Lauf. Franziskas Bauch wurde zusehends runder, sie konnte sich nicht erklären warum und schob diese Tatsache auf das gute Essen, die besseren Lebensumstände. Doch die Elfen tuschelten mittlerweile darüber. Franziska wurde unter vorgehaltener Hand beschimpft. Als die Gerüchteküche so schlimm am Brodeln war und wirklich niemand mehr die Augen vor einer Schwangerschaft verschließen konnte, bat Talorions Vater seinen Sohn zu einer Unterredung. Den genauen Wortlaut dieses heftigen Streits bekam niemand mit. Die Elfen schmückten zwar später dieses Ereignis in blumenreichen Worten aus, doch hatten sie immer dasselbe Ende: Talorion sollte sich entscheiden, er musste wählen zwischen seiner Geliebten und seiner Heimat.
Die Kinder wurden von der traurigen Stimmung getragen. Vereinzeltes Schluchzen ist zu hören. Ein unbeteiligter Beobachter wäre felsenfest davon überzeugt, sie hören die Geschichte zum ersten Mal. Auch Oma Gertrud verspürt an dieser Stelle immer ein flaues Gefühl im Magen und so muss sie kurz inne halten mit der Erzählung.